© 2015 Reiner Wandler

Tunesien im Fadenkreuz

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Tunesien erwacht nur langsam aus dem Schock nach dem Überfall auf das Hotel Imperial Marhaba bei Sousse am Mittelmeer. 38 meist ausländische Touristen wurden von einem jungen Mann mit einem Schnellfeuergewehr gejagt und regelrecht hingerichtet. Es ist, das wissen alle im Lande, das Ende des Tourismus und damit einer Industrie, die für sieben Prozent des BIPs verantwortlich ist. Tausende Urlauber wurden von den Reiseveranstaltern übers Wochenende panikartig in ihre Heimat ausgeflogen. Vielerorts kam es zu spontanen Demonstrationen gegen den islamistischen Terror und für ein freies, demokratisches Tunesien.

„Der Krieg betrifft nicht nur Armee und Polizei (…) er betrifft die gesamte Bevölkerung“, erklärte der säkulare, liberal Staatspräsident Béji Caïd Essebsi. Er erließ nur wenige Stunden nach dem Blutbad von Sousse einen Notfallplan mit 13 Maßnahmen. Unter anderem sollen 80 nicht offizielle Moscheen, in denen radikale Prediger am Werk sind, geschlossen werden. Parteien und Organisationen, „die die Verfassung nicht respektieren“ werden untersucht, nach der Sommerpause werden Parteien und Zivilgesellschaft zu einem „Nationalen Kongress gegen den Terrorismus“ gerufen.

Nicht überall kommen diese Maßnahmen gut an. Rachid Ghannouchi, Chef der islamistischen Ennahda, die nach dem Sturz der Diktatur 2011 für zwei Jahre die Übergangsregierung stellte, warnt davor, dass der Polizeistaat die Freiheiten einschränken könne. Er fürchtet wohl um islamistische Organisationen auf halbem Wege zwischen Ennahda und dem radikalen Lager.

Für Präsident Essebsi kam der Anschlag alles andere als überraschend. Bereits vor einigen Wochen warnte er in einem Interview mit dem deutschen Fernsehsender ZDF: „Der Islamische Staat ist in Libyen fest verankert. Und die nächste Beute nach der Strategie des IS ist: Tunesien.“ Immer wieder waren tunesische Einrichtungen sowie tunesische Bürger Ziel von Anschlägen und Entführungen im Nachbarland Libyen geworden. Tunis hat mittlerweile seine diplomatische Vertretung aus Tripolis abgezogen.

Libyen ist nach dem Sturz des Diktators Muammar El-Gaddafi im Oktober 2011 mit Hilfe von Natoluftangriffen völlig zerfallen. Die Regionen werden von lokalen Milizen kontrolliert, zwei Regierungen streiten sich um die Macht im Land. Seit Ende 2014 ist ganz offiziell der „Islamische Staat“ (IS) in der libyschen Wüste aktiv. Ziel: Das Kalifat vor den Toren Europas auszubauen. 3.000 tunesische Kämpfer haben sich -so die Behörden – dem IS in Syrien, dem Irak und auch in Libyen angeschlossen. Immer wieder werden Waffenschmuggler an der Grenze zu Tunesien verhaftet.

Dennoch sind wohl große Mengen an Kriegsmaterial nach Tunesien eigesickert. Dort kämpfen in einer Bergregion an der Grenze zu Algerien seit über zwei Jahren Milizen gegen die tunesische Armee und Gendarmerie. Erst vergangenen Woche wurde das Gebiet einmal mehr großflächig von der Luftwaffe bombardiert. Jetzt wird Essebsi, als eine seiner Maßnahmen, die gesamte Bergregion zum militärischen Sperrgebiet erklären. Reservisten werden zurück zur Armee gerufen. Die Grenze zu Libyen soll mit 15.000 Mann kontrolliert werden.

Essebsi sucht internationale Verbündete. Noch nicht einmal ein Jahr im Amt traf er sich bereits mit seinem algerischen Amtskollegen Abdelaziz Bouteflika, mit europäischen Regierungen und mit US-Präsident Barack Obama. Dieser brachte im US-Kongress einen Antrag ein, dem kleinen, nordafrikanischen Land mit über 130 Millionen Dollar unter die Arme zu greifen. Die Hälfte des Betrages – einige Experten in Washington sprechen gar von 80 Prozent – werden für die Aufrüstung der tunesischen Armee und Polizei sein. Militärfahrzeuge, ein Patrouillenboot, und ein Dutzend hochmoderner Kampfhubschrauber Made in USA sollen bald zum Einsatz kommen. Tunesien wird damit zu einem wichtigsten Partner der USA und der Nato in der Region.

Die Sicherheitsbehörden haben in den letzten Monaten eine der wichtigsten radikalen Organisationen, die „Ansar al-Scharia“ weitgehend zerschlagen. Rund 1.000 meist junge Tunesier wurden festgenommen, andere flohen zu den Kämpfern in den Bergen an der algerischen Grenze, wieder andere dürften heute irgendwo in den Reihen des IS oder Al-Qaida kämpfen. Am meisten fürchten die Behörden diejenigen, die nicht enttarnt wurden und als Schläfer irgendwo einen Anschlag – wie den von Sousse – ausbrüten.

 

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Meine Meinung

Ratlosigkeit

Tunesien ist das einzige Land, in dem der sogenannte „arabische Frühling“ erfolgreich war. Das bleibt auch nach dem Blutbad in Sousse vom Freitag richtig. Kein Land, in dem 2011 die Menschen rebellierten hat den Übergang zur Demokratie geschafft, ausser eben Tunesien. Und genau das wird dem kleinen, nordafrikanischen Land jetzt zum Verhängnis.

Denn es kann nicht sein, was nicht sein darf. Ein positives Beispiel, die Hoffnung auf eine moderne Demokratie in der arabischen Welt, das passt den radikalen Islamisten und den Konservativen, die sie finanzieren, nicht ins Konzept.

Tunesien ist durch Revolution und Übergang zur Demokratie zur Schnittstelle zwischen dem was allgemein als Demokratie mit Bürgerrechten und persönlichen Freiheiten gilt und einer Welt voller Nostalgiker, die in der Vergangenheit, in der radikalen, buchstabengetreuen Auslegung der Religion ihre Zukunft suchen, geworden. Deshalb die Anschläge im März auf das archäologische Museum in Tunis oder jetzt auf die Hotelanlage in Sousse. Mit den Touristen soll das „sündige Leben“ aus Tunesien vertrieben und das Land wirtschaftlich stranguliert werden.

Militärhilfe, Unterstützung der Polizei, internationale Zusammenarbeit im Kampf gegen terroristische Netzwerke … all das wird jetzt diskutiert werden. Doch all das wird den Tunesiern nicht wirklich helfen. Polizeibeamte mit Schnellfeuergewehren, die am Strand patrouillieren, wie das einst in Algerien in den 1990er Jahren der Fall war, bringt den Tourismus nicht zurück. Riesige Armeeaufgebote, die die Grenze nach Libyen sichern, werden den Waffenschmuggel verringern, aber sicher wird das Land dadurch nicht. Denn längst ist genug Material aus dem zusammengebrochenen Gaddafi-Regime ins Land gesickert.

Was wirklich helfen würde ist eine wirtschaftliche Entwicklung, die den jungen Menschen in Tunesien eine reelle Perspektive bietet. Und das wird mit jedem Anschlag schwieriger, ja fast unmöglich. Was nach den Morden vom Freitag bleibt, ist leider nicht viel mehr als tiefe, bedrückende Ratlosigkeit.

Was bisher geschah: