© 2014 Reiner Wandler

Tunesien hat die Wahl

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„Tunesien, die erste Demokratie der arabischen Welt!“ hat jemand an der Avenue Bourguiba – dort wo am 14. Januar 2014 der arabische Frühling mit dem Sturz des Diktators Zine el Abidine Ben Ali den ersten Erfolg feierte – auf einen Bauzaun gesprüht. Tunesien befindet sich seit knapp zwei Monaten im Dauerwahlkampf. Mit einer neuen Verfassung wählten die Tunesier Ende Oktober ihr Parlament. Am kommenden Sonntag findet die erste Runde der Präsidentschaftswahlen statt. Übergroße Portraits der 27 Kandidaten bestimmen das Straßenbild.

Es geht vor allem um zwei Kandidaten, den aktuellen, von der Oktober 2011 gewählten Verfassungsgebenden Versammlung mit den Stimmen der islamistschhen Ennahda und zweier kleiner säkularer Parteien eingesetzten Präsidenten Moncef Marzouki; und um Béji Caïd Essebsi, Veterane aus den Tagen der Unabhängigkeit Tunesiens von Frankreich sowie Ministerpräsident einer der drei Übergangsregierungen vom Sturz Ben Alis bis zur ersten freien Wahl zur Verfassungsgebenden Versammlung. Beide werden wohl in einem zweiten Wahlgang Ende Dezember unter sich ausmachen, wer letztendlich in den Präsidentenpalast in Carthage einziehen wird.

Die Bürger informieren sich in Funk, Fernsehen und Presse. Wer es ganz genau wissen will, besucht eine der zahlreichen Wahlkampfveranstaltungen. Überall in den großen Sälen des Landes geben sich die Kandidaten förmlich die Klinge in die Hand. So auch in der Coupole, der Sporthalle im Norden der Hauptstadt. Am Samstag war Essebsi an der Reihe.

Die Nationalfarbe rot bestimmt die Szene. Tausende schwenken begeistert Fähnchen mit Halbmond und Stern auf der einen, dem Gesicht ihres Kandidaten auf der anderen Seite. Ein langes Video zeigt auf zwei Großleinwänden auf der ebenfalls roten Bühne die Wirren der Übergangsjahre. Bilder von Demonstrationen und brutalen Polizeiübergriffen sollen die Jugend ansprechen, die einst Ben Ali vertrieb. Aufnahmen von den wenigen Terroranschlägen und von Aufmärschen radikalen Salafisten unterstreichen die Sorge vieler. Die Botschaft ist klar. Der aktuelle Präsident Marzouki hat versagt. Es braucht einen Wechsel, einen neuen Mann an der Staatsspitze, einen mit Erfahrung. So einen eben wie Essebsi, einst Innen- und später Aussenminister unter dem ersten Präsidenten nach der Unabhängigkeit 1956, Habib Bourguiba.

Dann ist zu sehen, wie ihr „Bajbouj“ – so der Kosename der Essebsi seit seiner Geburt vor über 87 Jahren begleitet – durch die langen Gänge der Sporthalle kommt – mit sicherem Schritt, festen Blick, umgeben von Vertrauten aus den Reihen seiner Partei „Nidaa Tounes“ – dem „Ruf Tunesiens“, die im Oktober stärkste Fraktion im neuen Parlament wurde. Wie ein in die Jahre geratener Rocky betritt er das Pult. Die Nationalhymne erklingt; alle singen mit. Essebsi hebt die Arme und beginnt „im Namen Gottes, des Allmächtigen und Barmherzigen“ seine Rede.

Asma Chijdi ist eine, derer, die gebannt zuhören. Die 21-jährige Medizinstudentin hat keinen Wimpel und auch sonst kein Wahlkampfsymbol. „Noch schwanke ich“, sagt sie, obwohl ihre Stimme im Oktober Nidaa Tounes gehörte. „Es ist eine säkulare Partei. Ich habe sie gewählt, damit die Islamisten von Ennahda nicht erneut regieren“, erklärt sie, wohl stellvertretend für die meisten derer, die für Essebsis Partei stimmten. Nidaa Tounes wurde vor zwei Jahren von Veteranen, Gewerkschaftern, Liberalen aber auch ehemaligen Mitglieder von Ben Alis Einheitspartei RCD gegründet, um den Islamisten etwas entgegenzusetzen.

Von einem Präsidenten erwartet Chijdi nach den drei schwierigen postrevolutionären Jahren „Sicherheit, Stabilität und wirtschaftlichen Aufschwung“. Bei einer Jugendarbeitslosigkeit von weit über 30 Prozent, ein verständlicher Wunsch. Chijdi hat neben Essebsi zwei weitere Kandidaten auf ihrer Liste: Den bekannten Oppositionellen und Kommunisten Hamma Hammami, der für das Linksbündnis „Volksfront“ ins Rennen geht, sowie die aus den Jahren der Diktatur bekannte, mutige Richterin Kalthoum Kennou – unabhängig und einzige Frau unter den 27 Kandidaten. „Mit Essebsi Programm bin ich einverstanden. Aber sein Alter …“, erklärt Chijdi warum sie es sich, wie viele jungen Tunesier, mit ihm schwer tut.

Ghasi Ghezal wird auf jeden Fall Essebsi wählen. Der 45-jährige Besitzer eines kleine Cafés im Urlaubsort Sousse ist ein richtiger Essebsi-Fan: „Ich fahre auf alle Veranstaltungen.“ Natürlich war er auch in Monastir, am Mausoleum des Präsidenten Bourguiba, wo „Bajbouj“ seinen Wahlkampf im Schatten des tunesischen Übervaters eröffnete.

„Wir brauchen jemand, der die Wirtschaft ankurbelt und wir brauchen eine starke Hand“, sagt er. Demokratie sei gut, aber es brauche auch Ordnung. „Unter dem alten Regime gab es keine Kriminalität“, fügt Ghezal hinzu. Auf die Vergangenheit des Kandidaten angesprochen, der auch unter Ben Ali Anfang der 1990er Jahre als Präsident des völlig gegängelten Parlamentes diente, winkt er nur ab. Essebsi sei „ein ehrlicher Mensch“, sagt Ghezal und wechselt dabei überraschend vom Französischen ins gebrochene Deutsch, das er von Touristen gelernt hat.

Der Alte, oben auf der Bühne, wird allen Erwartungen gerecht. Essebsi redet mal väterlich, mal kämpferisch, mal von einem „zivilen Staat“ mal von „muslimischen Traditionen“. Er wirbt für „eine Regierung auf breiter Basis“ ohne ein Bündnis mit den Islamisten von Ennahda auszuschließen. Diese haben auf einen Präsidentschaftskandidaten verzichtet und der Basis Wahlfreiheit gegeben. Es ist ein wichtiges Stimmenpotential, das er nicht komplett seinem Gegner Marzouki überlassen will.

Gleichzeitig beruft sich Essebsi aber auch auf das moderne Tunesien, das die Frauenrechte respektiert, wie sonst kein arabisches Land. Und er verspricht selbstverständlich: Sicherheit, Arbeit, Aufschwung.

Immer wieder kritisiert er den aktuellen Präsidenten, wegen dessen vermeintlicher Nähe zu den Islamisten, ja gar zu den radikalen Salafisten, ohne dabei auch nur einmal den Namen Marzouki auszusprechen. „Ich als Präsident werde die Liga zum Schutz der Revolution nicht im Palast empfangen“, beteuert Essebsi unter tosendem Applaus und erinnert damit an eine der umstrittensten Amtshandlungen Marzoukis in den vergangenen drei Jahren.

Die Liga ist eine Organisation, die sich hauptsächlich aus radikalen Islamisten speist. Sie hat sich dem „Kampf gegen alle Vertreter des alten Regimes“ verschrieben und macht dabei auch vor gewalttätigen Übergriffen gegen Vertreter und Büros von Nidaa Tounes, aber auch gegen Linke und die Gewerkschaft UGTT nicht halt. Mittlerweile wurde sie richterlich verboten. Einige ehemalige Ligaführer haben Marzouki im Internet Unterstützung zugesichert. Essebsi nutzt dies in all seinen Auftritten und mobilisiert damit erfolgreich im säkularen Lager.

„Dégage!“ – „Verschwinde!“ halte es zeitgleich zum Auftritt Essebsis durch die Straßen von Sfax, der zweitgrößten Stadt des Landes. Dort im Süden hält Marzouki eine Veranstaltung ab. Tausende protestieren gegen ihn, während ihm im Saal seine Anhänger Beifall zollen. Der 69-jährige einstige Menschenrechtler und säkulare Exilpolitiker braucht die Stimmen Ennahdas mit der er bisher in Koalition regierte. Seine eigene Partei, der Kongress für die Republik (CPR) verlor im Oktober 25 der 29 Sitze Parlamentssitze. Marzouki warnt vor „der Rückkehr zum alten Regime“ und meint damit seinen Herausforderer dessen Partei er gerne einmal mit dem Wort „Taghout“ belegt, einer arabischen Vokabel, die von radikalen, gewaltbereiten Islamisten für „Erzfeinde“ genutzt wird, die es zu vernichten gilt.

Solche Reden und Proteste wie in Sfax machen in kürzester Zeit die Runde in den sozialen Netzwerken, seit den Tagen der Revolution eine wichtigste Informationsquelle der Tunesier. Wer nur irgendwie Zugang zum Internet hat, nutzt Facebook.

So auch Asma Chijdi, die nach dem Meeting von Essebsi noch immer nicht entscheiden kann, wen sie den nun am kommenden Sonntag wählen wird. Sie hat es nicht eilig. Auch wenn es das erste Mal ist, das in Tunesien ein Staatschef vom Volk gewählt wird, das Wahlsystem ist mit zwei Runden ist nicht neu. Sie kennen es zu genüge aus dem Fernsehen, aus der ehemaligen Metropole Frankreich. „Die erste Runde mit dem Herzen und die zweite mit dem Kopf“, erklärt Chijdi, wie das geht. Egal was sie jetzt tun wird, für Dezember kennt sie keinen Zweifel: „Marzouki? Niemals!“

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