© 2013 Reiner Wandler

Tunesien vor der zweiten Revolution

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Es war die alte Parole, die am Mittwoch zur Mittagszeit wieder durch die Avenue Habib Bourguiba in Tunis hallte. Wie einst am 14. Januar 2011, als Diktator Zine el Abidine Ben Ali abdanken musste, riefen Zehntausende, die Richtung Regierungspalast zogen, „Dégage, dégage …“ – „Verdufte, verdufte …“ Dieses Mal meinten sie die Koalition unter Führung der islamistischen Ennahda, die seit den ersten freien Wahlen vor genau zwei Jahren das Land regiert. Mobilisiert hatte die unabhängige Jugendbewegung Tamrod (Rebellion) sowie die wichtigsten Oppositionsparteien. Auch in anderen Städten des Landes kam es zu Demonstrationen.
Parallel zu den Protesten hatte Ministerpräsident Ali Laarayedh die Minister seiner Ennahda, sowie die der beiden kleinen säkularen Parteien, dem Kongress für die Republik (CPR) von Staatschef Moncef Marzouki und der Ettakatol von Parlamentspräsident Mustapha Ben Jaafar zu einer Dringlichkeitssitzung gerufen. Das Kabinett beriet über einen möglichen, sofortigen Rücktritt, um so den Weg für einen „Nationalen Dialog“ auf den sich Opposition und Ennahda bereits am 5. Oktober geeinigt hatten, zu ebnen. Bis zum Redaktionsschluss war noch keine Entscheidung gefallen. Für den Nachmittag war ein erstes Treffen der Opposition und Ennahda vorgesehen. Doch ohne eine Rücktrittserklärung wollte die Opposition daran nicht teilnehmen.

Die Gespräche sollen unter Aufsicht und Vermittlung der mächtigen Gewerkschaft Union Générale Tunisienne du Travail (UGTT), des Arbeitgeberverbandes, der Menschenrechtsliga und der Anwaltsvereinigung den Übergang zur Nach-Ben-Ali-Republik so schnell wie möglich vollziehen. In den kommenden drei Wochen soll eine Technokratenregierung eingesetzt werden, um dann die neue Verfassung in weiteren fünf Wochen fertigzustellen und endlich Neuwahlen vorzubereiten.

Das nordafrikanische Land soll somit aus einer tiefen institutionellen Krise geführt werden, in der es seit dem vergangenen 25. Juli steckt. An jenem Tag wurde der Oppositionspolitiker Mohamed Brami ermordet. Es war nach der tödlichen Anschlag auf Chokri Belaid im Februar das zweite Opfer eines Attentats auf einen namhaften Linkspolitiker und Gewerkschafter seit dem Sturz Ben Alis.

Die Opposition, die sich in einer “Nationalen Heilsfront” zusammengeschlossen hat, macht die islamistische Regierung für die beiden Morde mitverantwortlich. Sie sei zu lax gegen religiöse Fanatiker vorgegangen, lautet der Vorwurf. Riesige Demonstrationen forderten seither immer wieder den Rücktritt der Regierung unter Führung von Ennahda. 60 Parlamentarier linker Formationen haben die Nationalversammlung verlassen. Die schleppende Arbeit an der neuen Verfassung kam ganz zum erliegen. Eigentlich hätte der Text spätestens ein Jahr nach den Wahlen vom 23. Oktober 2011 vorgestellt werden müssen.

„Die Stunde der Wahrheit kommt in Riesenschritten auf uns zu“, schreibt die Tageszeitung Quotidien in ihrer Mittwochsausgabe. Tunesien riskiere in eine „noch unsicherere und chaotischere Zukunft abzurutschen“, warnt das Blatt. Denn der zweite Jahrestag der ersten freie Wahlen bietet wenig Anlass zum Feiern. Nicht nur dass die Verfassung seit einem Jahr überfällig ist – die Wirtschaft steckt in der Krise, die Arbeitslosigkeit und Armut nimmt zu und seit Monaten macht ein Problem von sich reden, dass die Tunesier so nicht kannten: Die politische Gewalt.

Nicht nur die beiden Morde an Oppositionspolitikern schockieren das Land. An mehreren Orten halten sich bewaffnete Gruppen in unwegbarem Gebiet verschanzt. Neben dem höchsten Berg des Landes, dem Djebel Chambi (1544 m), an der Grenze zu Algerien kam es Ende letzter Woche nur 60 Kilometer westlich der Hauptstadt Tunis zu Auseinandersetzung zwischen einer bewaffnete Gruppe und der Nationalgarde. Zehn islamistische Kämpfer und zwei Polizisten kamen dabei ums Leben. Auch der Mittwoch war wieder von Meldungen von eine Feuergefecht überschattet. In Sidi Bouzid, der zentraltunesischen Wiege der Revolution, sollen dabei erneut sieben Nationalgardisten und eine unbekannte Zahl von radikalen Islamisten ihr Leben verloren haben./Foto: Nidaa Tounes

Was bisher geschah: