Die Auseinandersetzungen um die Zukunft Tunesien findet nicht nur auf der Straße statt. Das im Oktober 2011 gewählte, erste freie Parlament des Landes soll eine neue Verfassung ausarbeiten und scheiterte bisher an dieser Aufgabe. Eigentlich hatte die Verfassungsgebende Versammlung ein Jahr Zeit. Danach sollte neu gewählt werden. Die Frist ist längst verstrichen. Wann das Grundgesetz druckreif ist und wann die Tunesier erneut an die Urnen schreiten werden, kann keiner sagen. Ein erster Verfassungsentwurf lässt nichts gutes ahnen. Ennahda versuche, so das säkulare Tunesien, das Land durch die Hintertür zu islamisieren.
„Der zivile, nicht religiöse Charakter des Staates ist in der Verfassung nicht verankert“, beschwert sich einer der bekanntesten der Juraprofessoren des Landes, Yadh Ben Achour von der Universität in Tunis. Die Kompromissformel, die nach monatelangen Streitigkeiten zwischen den regierenden Islamisten von Ennahda, die zu Beginn der Verhandlungen das islamische Recht, die Scharia verankern wollten, und säkularen Politikern definiert Tunesien als „einen freien, unabhängigen, souveränen Staat, dessen Religion der Islam und dessen Sprache das Arabisch ist.“ An weiteren Stellen ist von den „Werten des Islam“, von seinen „unabänderlichen Prinzipien“ und vom „Einklang mit der kulturellen Eigenheiten des tunesischen Volkes“ die Rede. Die Festlegung der Staatsreligion wird ausdrücklich von möglichen Verfassungsreformen ausgenommen.
Religiösen Werte stehen über den Menschenrechte und ein Hoher Islamischer Rat soll als Wächter über eben diese eingerichtet werden. Obwohl die Religionsfreiheit im Text festgeschrieben ist, wird der Staat als „Schützer der Religion“ und nicht der Religionen definiert. Juden, Christen und Atheisten lässt dies aufhorchen. „Die Gefahr besteht darin, dass die Religion des Staates im traditionellen, radikal konservativen Sinne verstanden wird“, befürchtet Achour, der sich in einem langen Artikel in einer der wichtigsten Tageszeitung des Landes, Al Maghreb, mit dem Entwurf der neuen Verfassung auseinandersetzt.
Der Schutz des Lebens sorgt ebenfalls für Debatten. Denn im Verfassungsentwurf heißt es: „Das Recht auf Leben ist heilig, dagegen darf nicht verstoßen werden, außer in den Fällen, die vom Gesetz festgelegt sind.“ Viele befürchten einen Fortbestand der Todesstrafe. Sie existiert in Tunesien seit der Unabhängigkeit, wurde aber nach 1991 ausgesetzt.
Die Gleichberechtigung der Frau – die in Tunesien als einziges arabisches Land seit der Unabhängigkeit gilt – soll auch in der neuen Verfassung wieder festgeschrieben werden. Dies konnten Frauenbewegung und säkularen Parteien gegen Ennahda durchsetzen. Deren Idee war es, in der Verfassung von „der Ergänzung von Mann und Frau“ zu sprechen. Doch die Gefahr, dass die Frauenrechte eingeschränkt werden, bestehe weiterhin, warnt die Juristin der Tunesischen Vereinigung Demokratischer Frauen (ATFD). „Die Vieldeutigkeit und Verwirrung hervorgerufen durch der Definition, des Islams als Staatsreligion“, sei ein Risiko.