Mustapha Ben Ahmed (59), arbeitete in einer staatlichen Tabakfabrik. 1976 schloss er sich der tunesischen Gewerkschaft UGTT an. Seit 1999 gehört er dem Vorstand an und ist für internationale Beziehungen zuständig. Er ist Gründungsmitglied der neuen Zentrumspartei Nida Tounes, die bei Umfragen hinter den regierenden Islamisten von Ennahda auf Platz 2 liegt. Auch hier sitzt er im Vorstand.
Wie kommt jemand wie sie, Veteran der Gewerkschaft UGTT, gestandener Marxist, der an mehreren linken Projekten teilgenommen hat, in den Vorstand einer Zentrumspartei wie Nidaa Tounes?
Das ist das Ergebnis eines Denkprozesses, ausgelöst durch die politische Situation Tunesiens und dem Kräfteverhältnis, das wir nach den ersten freien Wahlen vorfanden. Die islamistische Ennahda wurde stärkste Partei und ist seither an der Macht. Das hat zu einer sehr prekären, politischen Situation geführt, die die Demokratisierung als solche bedroht. Die wichtigste Aufgabe, vor der wir stehen, ist eine Kraft aufzubauen, die den Islamisten etwas entgegensetzen kann, in dem sie breite Teile der Bevölkerung und vor allem die Mittelschichten mobilisiert.
Ist das nicht eine völlige Reduzierung der Politik auf den Widerspruch Religion oder säkulare Gesellschaft?
Um eine echte Demokratie aufzubauen, braucht es eine gesellschaftliche Grundlage. Wir brauchen eine Klasse, die für Stabilität sorgt. Erst wenn das gelungen ist, können wir uns einem echten Pluralismus, mit klaren ideologischen Referenten widmen. Bei den Islamisten gibt es verschiedene Strömungen, aber sie haben eine gemeinsame Grundlage gefunden. Es geht ihnen darum, die Scharia, das islamische Recht, einzuführen. Auf der Gegenseite haben wir das säkularen Lager, das von der extremen Linken bis hin zu Liberalen reicht. Der Wunsch nach einer demokratische, säkulare Gesellschaft, einer zivilen und keiner religiösen Republik, eint alle. Zum jetzigen Zeitpunkt ist dies die wichtigste Frage. Alles andere ist zweitrangig. Wir geben nichts auf, wir konzentrieren uns auf den Hauptwiderspruch. Natürlich haben wir auch bei Nida Tounes eine Menge Diskussionen. Das ist normal in einer Partei, die von Gewerkschaftern bis zu Wirtschaftsliberalen alles in ihren Reihen hat.
… und eine Menge Mitglieder aus dem alten Regime?
Das ist ein sehr vager Vorwurf. Es gibt kein neues Regime, damit können wir auch nicht von einem alten Regime reden. Der Staat besteht nach wie vor in seiner bisherigen Form, mit seiner Verwaltung, Justiz, Polizei, Armee …. Das einzige was sich geändert hat ist die Staatsspitze. Wir hatten eine diktatorielle Macht, die in der Hand einer kleinen Minderheit rund um Präsidenten Ben Ali und seiner Familie, war. Zwei Millionen der knapp elf Millionen Tunesier gehörten der RCD, der Staatspartei, an. Diese zwei Millionen unterstützen bei weitem nicht alle Ben Ali. Sonst wäre die Revolution nicht möglich gewesen.
Das heißt, Sie wollen die Leute aus der RCD integrieren?
Wir können doch nicht zwei Millionen Tunesier ins Meer treiben. Die Korrupten und die echten Unterstützer Ben Alis, die sich die Hände schmutzig gemacht haben, sind vielleicht 10.000, 30.000 oder ganz hochgegriffen 50.000. Die große Mehrheit der RCD-Mitglieder litt genauso unter Ben Ali, wie der Rest der Tunesier. Sie sind in der Verwaltung tätig, sie arbeiten in Staatsbetrieben, sind kleine Händler, oder Geschäftsleute. Sie sind ein Teil der tunesischen Gesellschaft. Die gesamte tunesische Gesellschaft muss sich erneuern, nicht nur diejenigen, die gerne als Leute des Regimes bezeichnet werden. Denn niemand hier weiß tatsächlich, wie es ist, unter demokratischen Verhältnissen zu leben.
Der Staat hat sich nicht verändert, die Institutionen sind die gleichen … wäre es da nicht logischer für einen totale Revolution zu streiten, statt Stabilität zu suchen?
Was heißt totale Revolution? Dass sich eine Klasse über die andere erhebt und sie von der Macht verdrängt. Das war so in der französischen Revolution, als das Bürgertum den Feudalismus zerschlug. Ein anderes Beispiel ist die bolschewistische Revolution, in der eine Klasse von Intellektuellen, die sich mit der Arbeiterklasse identifizierte, das Zarenregime stürzte. Das letzte Beispiel ist die iranische Revolution. Mit der Entwicklung, die die Welt seither durchlaufen hat, mit der virtuellen Abschaffung der Grenzen, mit der Kommunikation, der Globalisierung, dem Waren- und Kapitalverkehr, liegt die wirtschaftliche Macht in den Händen bestimmter Lobbies, die meist mächtiger sind als die Staaten selbst. Die Frage der Souveränität, die eine der wichtigsten Fragen jeder Revolution war, ist immer unbedeutender. Das hat dazu geführt, dass die Veränderungen andere sind, als früher. Sie werden von der internationalen Gemeinschaft beobachtet und begrenzt. Schauen wir nach Osteuropa. Dort wurden die neuen Demokratien mit den Leuten des alten Regimes aufgebaut.
Ist Osteuropa ihr Vorbild?
Alle Veränderungen werden so aussehen. Die internationale Gemeinschaft versucht gesellschaftliche Veränderungen friedlich verlaufen zu lassen. Das war in Spanien nach dem Tod Francos so, wo die alten Kräfte mit Hilfe der heute regierenden Partido Popular in die Demokratie eingebunden wurden. Das ist in Südafrika so, wo eine Formel der Aussöhnung gefunden wurde. Die Zeit der völligen Zerstörung des Alten, um etwas Neues aufzubauen ist vorbei.
Das säkulare Lager redet viel von Modernität. Ist das nicht ein Problem? Schließlich hat dies Ben Ali auch getan. Verändert hat sich für viele Menschen an ihrer sozialen Lage dennoch nicht. Die Islamisten profitieren davon.
Es stimmt, Ennahda nutzt die Armut. Sie sind in den vernachlässigten Regionen sehr stark. Hinzu kommt die Tradition. Die islamische Religion mischt sich in alle Bereiche des Lebens ein. Nach der Unabhängigkeit hat der erste Präsident Bourguiba wichtige Reformen durchgeführt. Aber es entstand dennoch kein säkularer Staat wie in Europa.
Tunesien zeigt, dass Modernität und Freiheit nicht unbedingt miteinander einher gehen.
Als Tunesien unabhängig wurde, stand die Frage der Demokratie in den Ländern der Dritten Welt nicht auf der Tagesordnung. Dieses Modell passte nicht zur Wirklichkeit unserer Länder. Um eine Demokratie aufzubauen müssen zuerst einmal die Kräfte der Gesellschaft befreit werden, angefangen bei den Frauen. Es Schulbildung, ein Gesundheitssystem und bessere Lebensbedingungen. Nur so werden die Menschen tatsächlich in die Lage versetzt am öffentlichen Leben teilzunehmen. Das wurde alles getan. Erst in den 1970er Jahren, als die erste Generation der Unabhängigkeit herangewachsen war, wurde die Forderung nach Demokratie laut. Der Staat versagte. Er respektierte diese Entwicklung der Gesellschaft nicht.
Und jetzt ist Gesellschaft für eine demokratische Entwicklung bereit?
Ein Großteil ja, auch wenn es noch immer Teile der Bevölkerung gibt, die in Armut leben und andere Probleme haben, als eine plurale Gesellschaft.
Aber die Islamisten haben die Wahlen gewonnen.
Ja, aber sie sehen sich einem Widerstand der tunesischen Gesellschaft gegenüber, um die zivilen Errungenschaften zu verteidigen … die Freiheiten, die Rechte der Frauen, das moderne Bildungssystem, eine offene Kultur … Der Widerstand der Zivilgesellschaft zeigt, dass wir alle notwendigen Elemente haben, die eine Demokratisierung braucht. Jetzt geht es darum, diese Kräfte zusammenzufassen.