© 2012 Reiner Wandler

Die anderen Hausbesetzer

„Ich rauche viel zu viel“, entschuldigt sich Carmen Ferrer und steckt sich schon die Nächste an. „Es ist wie ein Alptraum. Stell dir vor ich habe 40 Jahre in die Sozialversicherung einbezahlt und jetzt ende ich so“, sagt die 56-jährige Frau. So – das ist in der Corrala Utopía, einem Neubaublock im südspanischen Sevilla. Am 15. Mai diesen Jahres – dem ersten Jahrestag der Proteste der spanischen „Empörten“ – besetzten 36 Familien – 121 Menschen vom Baby bis zum Rentner – das leerstehende Gebäude am Stadtring der andalusischen Metropole. Sie verbindet vor allem eines. Im Laufe der Krise konnten sie ihre Wohnung nicht mehr bezahlen und landeten auf der Straße.

Carmen Ferrer sieht sich „nicht als Besetzerin sondern als Bedürftige“. Die alleinerziehende Mutter kam mit ihrer 24-jährigen Tochter Patricia und ihrem 26-jährigen Sohn Antonio und lebt in einer drei Zimmer Wohnung im zweiten Stock. „Was hätten wir anderes tun sollen?“ fragt sie, als wolle sie sich entschuldigen.
„Im März habe ich meine Wohnung verloren“, beginnt sie ihre Geschichte eines angekündigten Bankrotts. Ferrer arbeitet als Verwaltungsgehilfin in der Regionalregierung Andalusiens. 900 Euro verdient sie noch, nachdem ihr Gehalt im Laufe der Sparmaßnahmen um fünf Prozent gekürzt und das Weihnachtsgeld gestrichen wurde. Gleichzeitig stieg die Miete ihrer Sozialwohnung in den letzten drei Jahren von 120 auf 450 Euro pro Monat. Tochter und Sohn haben längst ihren Job im Gaststättengewerbe verloren. „Irgendwann waren wir dann mit fast einem Jahr Mietzahlungen im Rückstand“, berichtet sie. Die Stadtverwaltung klagte auf Räumung. Zu den 6.000 Euro Mietschulden kommen so noch 4.000 Euro Gerichtskosten. Außerdem hat Ferrer einen privaten Kredit bei der Bank, der monatlich 400 Euro Ratenzahlung bedeutet. Das war das Aus.
Ferrer endete mit ihren beiden Kindern auf der Straße: „Ich konnte nicht einmal all meine Sachen in Sicherheit bringen, als der Räumungsbescheid kam.“ In der dritten Nacht wurden sie von einer Gruppe rechtsradikaler Jugendlicher angegriffen. „Hätte uns nicht unsere Boxerhündin verteidigt, ich weiß nicht wie das ausgegangen wäre“, berichtet sie mit dünner Stimmen. Seither traue sie nachts nicht mehr auf die Straße.
Nach Übergangslösungen bei Freunden wendete sie sich an die Empörten der nach jenem 15. Mai 2011 benannten Bewegung 15M. Diese unterhalten in allen Stadtteilen Sevillas Beratungsstellen für Menschen, die Miete oder Wohnungskredit nicht mehr bezahlen können und vor der Räumung stehen oder bereits obdachlos geworden sind. Zwei Monate bereiteten sich Ferrer in einer Gruppe auf die Besetzung vor.
„Sie erklärten uns die Rechtslage und suchten ein Gebäude bei dem die Besitzverhältnisse nicht klar sind. In der ersten Nächten hier schlief ich kaum“, sagt Ferrer. Mittlerweile hat sie sich etwas beruhigt. Ferrer hat ihre Wohnung mit den ihr verbliebenen Möbeln und mit Sachspenden eingerichtet. Auf dem Balkon blühen Geranien. „Die Pflanzen und die Hündin vermitteln mir den Eindruck von einem normalen Leben“, sagt sie.
Doch normal ist anders. Das Gebäude, das eigentlich in Form von Eigentumswohnungen verkauft werden sollte, gehört nach dem Bankrott der Baufirma einer Bank. Diese kann es zwar auch nicht verkaufen, aber Besetzer stören dennoch. Strom und Wasser wurden abgeschaltet. Als die Bewohner die gekappte Wasserleitung wieder in Ordnung brachten, umstellte die Polizei das Gebäude. Gemeindearbeiter rissen die Straße auf und entfernten in zwei Metern Tiefe ein Stück der Hauptleitung. „Seither müssen wir Wasser aus einem Brunnen holen, der neben dem Haus von der Stadtverwaltung installiert wurde“, berichtet Ferrer. Unerträglich sei dies. Vor allem in der Hitze Südspaniens. Aufgeben will sie dennoch nicht. „Wo soll ich denn auch sonst hin?“ fragt Ferrer.
„Eine Schande so etwas“, schimpft die Nachbarin von nebenan, Vanesa Arias. 20.000 Euro hat die konservative Stadtverwaltung laut Presseberichten für die Unterbrechung der Wasserzufuhr sowie die Errichtung des Brunnens ausgegeben. Arias ist vom fehlenden Strom und Wasser besonders hart betroffen. Die 33-jährige arbeitslose Putzfrau hat drei kleine Kinder. Ihr Ältester, der sechsjährige Yeray, hat Downsyndrom und Glasknochen. Er braucht mehrmals am Tag eine Injektion. „Das Medikament muss kaltgestellt werden“, beschwert sich die junge Frau. Arias stellt die Glasampullen bei ihrer Mutter in den Kühlschrank und holt sie einzeln ab. Zwar steht auf dem Balkon ein Stromgenerator, doch das Geld, um damit den ganzen Tag über einen Kühlschrank zu betreiben, hat die Familie Arias einfach nicht.
Die Fünf leben von der Hand in den Mund. Vanesa Arias bekommt längst kein Arbeitslosengeld mehr. Und Hilfe für Langzeitarbeitslose gibt es erst ab 47. „Mein Mann ist auch arbeitslos und sammelt Schrott. Das bringt am Tag mal fünf mal zehn Euro“, berichtet sie. Nach einer Gesetzesänderung – auch sie ein Teil des Sparpakets der konservativen Regierung in Madrid – soll er sich künftig als Selbstständiger versichern. „Woher sollen wir das denn nehmen?“ fragt Arias.
Zwar wurde der jungen Familie die Hilfe für pflegebedürftige Kinder zugestanden. „Doch da wir keinen richtigen Wohnsitz mit einem Strom- und Wasservertrag haben, zahlen sie nicht“, beschreibt die junge Frau den Teufelskreis in dem sie sich befindet. „Das ist eine verkehrte Welt“, beschwert sich Arias. Auch sie hat Mietschulden und auch sie muss die Kosten der Räumungsklage tragen.
Wie alle Bewohner der Corrala Utopía gehört Arias einer der Kommissionen an, die das Wohnprojekt verwalten. Die Kommission für Zusammenleben schlichtet alltägliche Nachbarschaftskonflikte. Die für Ressourcen verwaltet die Lebensmittel- und Sachspenden, die für Infrastruktur kümmert sich um anfallende Reparaturen und Arias‘ Kommission für Organisation bereitet Proteste vor, druckt Flugblätter und kümmert sich um Öffentlichkeitsarbeit. Einmal in der Woche trifft sich die Vollversammlung. Dort werden dann größere Probleme gelöst, gemeinsame Forderungen beschlossen und Aktionen abgestimmt. Aus Protest gegen die Abschaltung von Wasser und Strom besetzten die Bewohner der Corrala Utopía die Stadtwerke und blockierten mehrmals den Verkehr auf dem Stadtring vor der Haustür. „Kein Strom, kein Wasser, keine Angst!“ hat jemand mit bunter Kreide an die Hauswand geschrieben.
„Wenn es keine Lösung für wohnungslose Familien in Form von Sozialwohnungen mit billigen Mieten gibt, werden die Besetzungen zunehmen“, prophezeit Manoli Cortés aus dem zweiten Stock. In Spanien werden täglich mehr als 500 Wohnungen zwangsgeräumt. Im ersten Halbjahr 2012 waren es alleine in Sevilla 2.000. 118.000 Wohnungen stehen in der Provinz rund um die andalusische Hauptstadt leer.
„Ich bin keine Besetzerin, ich bin Arbeiterin“, erklärt die 65-Jährige Cortés. Die adrett gekleidete Frau hat es besonders hart getroffen. Auch sie war nach einer frühen Scheidung alleinerziehende Mutter, arbeitete ihr Leben lang in prekären Verhältnissen, um die vier Kinder durchzubringen. Zuletzt war sie 19 Jahre lang Haushaltshilfe bei der selben Familie, dann wurde sie entlassen. Sozialversicherung hatte die Familie nie für sie einbezahlt. „Ich habe mich mein ganzes Leben lang durchgekämpft, für nichts“, sagt Cortés.
Mit 423 Euro Witwenrente ihres geschiedenen und mittlerweile verstorbenen Mannes, konnte sie den Wohnungskredit nicht mehr zahlen. „Nach einer Räumungsklage habe ich alles verloren. Doch die Schulden der Hypothek soll ich begleichen“, schimpft sie. „was ist das für eine Welt, in dem es Rettungspakete für Banken gibt aber für notleidende Familien nicht?“ sagt sie mit entschlossener Stimme.
Auch ihre vier Kinder sind arbeitslos und wohnen ebenfalls in der Corrala. Die beiden jüngsten Söhne, 25 und 27 Jahre alt, leben mit ihrer Mutter in einer drei Zimmer Wohnung, die beiden anderen, 41 und 45 Jahre zwei Stockwerke höher. Sie habe sie unterstützt, als sie nach und nach arbeitslos wurden. „Aber wenn dann die Mutter fällt, stürzt alles zusammen“, sagt sie.
Das Leben in der Corrala ist nicht leicht. Cortés kocht auf einem Gas-Campingherd, wäscht von Hand. Das Wasser dazu schleppt sie in großen Kanistern in den zweiten Stock. Cortés hat es sich, soweit das mit gespendeten Möbeln geht, gemütlich gemacht. Sogar einen Fernseher hat sie. Er wird mit einem Generator auf dem Balkon betrieben. „Ich kann doch nicht ab acht Uhr abends im Dunkeln sitzen“, sagt sie. Ihr ganzer Stolz sind die selbstgenähten Gardinen, die sie in der kleinen Küche angebracht hat.
Anders als ihre beiden Nachbarinnen, gewinnt Cortés der Situation auch etwas Positives ab. „Als ich hier her kam, war ich völlig am Boden zerstört“, erklärt sie. „Jetzt habe ich mich selbst gefunden. Es gibt mehr im Leben, als arbeiten, um die Kinder durchzubringen.“ Cortés, die nie zuvor politisch aktiv war, ist bei jeder Protestaktion sie in der ersten Reihe. „Falls die Corrala geräumt wird? Dann besetze ich eine andere Wohnung, solange, bis sie uns eine Lösung anbieten!“ sagt sie mit fester Stimme, und fügt dann hinzu: „Wenn du erst einmal da angekommen bist, wo ich bin, hast du vor nichts mehr Angst!“

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