Proteste in Casablanca
„Ein historischer Tag“, jubelt Younes Derraz, einer der Mitbegründer der marokkanischen Demokratiebewegung am Sonntag Abend. Erstmals seit der Volksabstimmung über die von König Mohamed VI. erlassenen zaghafte Verfassungsreform mobilisierte die Bewegung 20. Februar – so benannt nach dem Datum der ersten Großdemonstrationen – ihre Anhänger auf die Straße. Derraz war nach Sbata gekommen, einem der einfacheren Stadtteile der marokkanischen Wirtschaftsmetropole Casablanca. Als er am Treffpunkt für den allwöchentlichen Marsch für eine verfassungsgebende Versammlung, mehr soziale Rechte und gegen Korruption und Vetternwirtschaft, ankam, war er geschockt: „Zelte, Musik, ein großes Aufgebot an Polizei … eine Jubelfeier der Königstreuen angesichts des Ergebnisses der Volksabstimmung über eine neue Verfassung“, beschreibt der Aktivist, was er vorfand.
Es dauerte eine Weile, bis ihm klar wurde, dass die Seinen auf eine andere Straße ausgewichen waren, um Auseinandersetzungen zu vermeiden. „Dennoch wurden wir mit Steinen beschmissen. Wir drängten sie zurück und unsere Demonstration begann“. Die Menschen auf den Balkonen und an den Fenstern winkten freudig. Laut Veranstalter waren 30.000 gekommen. Das Innenministerium sprach von 20.000. Neben den Jugendlichen der Bewegung 20. Februar unterstützen einmal mehr Menschenrechtler, kleiner linke Parteien, Gewerkschafter und Islamisten die Proteste.
Tanger, Marrakesch, Fez, Rabat … in mindestens weiteren 60 Städten gingen die Menschen ebenfalls gegen die „Verfassung der Sklaven“ – wie sie es nennen – auf die Straße. Enttäuscht von der zaghaften Verfassungsreform, die Mohamed VI. höchstpersönlich bei einem Expertenkommitee in Auftrag gegeben hatte, und die nur wenig am politischen System verändert, riefen sie die Parole, die sich seit der tunesischen Revolution im Januar in Windeseile in der gesamten arabische Welt ausgebreitet hat: „Das Volk will den Sturz des Regimes.“ Und sie sangen: „Wir wollen eine Revolution, wie in Tunesien und Ägypten.“ Neben Casablanca war die Demonstration in der Hauptstadt Rabat die größte. Dort zogen die Demonstration vors Parlament.
„98 Prozent Ja und die Urnen leer“, skandierten die Demonstranten immer wieder. Keiner der Protestierenden glaubt an das offizielle Ergebnis des Referendums, 98,5 Prozent Ja-Stimmen bei einer Beteiligung von 72,5 Prozent. Livestreams und Aufnahmen bei youtube dokumentierten die Protestmärsche im Internet. Eine Karte im zeigte in Echtzeit, wo es zu Protesten kam. „Videos auf dem die 1,5 Prozent Nein-Stimmen zu sehen sind“, lautete ein Kommentar auf der Facebookseite der Bewegung 20. Februar. Wie in Casablanca wurden Demonstranten auch in anderen Städten von feiernden Königstreuen mit Steinen beschmissen und als Verräter beschimpft.