© 2011 Reiner Wandler

Für eine verfassungsgebende Versammlung

Die Revolution in Tunesien ist nicht vorbei. Das machten am Freitag Hunderttausende Demonstranten überall im Land deutlich. Sie forderten einmal mehr den Rücktritt von Ministerpräsidenten Mohammed Ghannouchi, der seit 1999 unter Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali diente und seit dessen Sturz am 14. Januar 2011 der Übergangsregierung vorsteht. Außerdem wollen sie Wahlen für eine verfassungsgebende Versammlung.


Die größte Demonstration fand in der Hauptstadt Tunis statt. Je nach Quelle versammelten sich im Stadtzentrum und vor dem Regierungssitz in der Kasbah, am oberen Ende der arabischen Altstadt, mehr als 100.000 Menschen – so die Polizei – und 350.000 – so die Organisatoren. Aufgerufen hatten Jugendlich per Facebook und Twitter, sowie der Rat zum Schutz der Revolution, dem 28 Oppositionsparteien, Anwalts- und Richtervereine sowie Gruppen der Zivilgesellschaft angehören. Viele Teilnehmer kamen mit Busen und Privat-Pkws aus ganz Tunesien in die Hauptstadt. „Sie sollen alle verschwinden“, riefen die Demonstranten immer wieder. Es ist der größte Aufmarsch, den Tunesien je gesehen hat.

Bis kurz vor 18 Uhr blieb es völlig ruhig und friedlich auf der Demonstration in Tunis. Die Menschen pflanzten libysche Fahnen auf die Wasserwerfer der Armee, lichteten sich mit Soldaten ab, sangen die Nationalhymne, bis plötzlich die Polizei völlig unerwartet Tränengas in großen Mengen verschoss. Die gesammte Avenue Bourguiba und alle Seitenstraßen versanken im Nebel. Es kam zu zahlreichen Verletzten. Wenig später errichteten Demonstranten Barrikaden auf dem zentralgelegenen Boulevard und steckten sie in Brand. Wasserwerfer rückten aus. Vor dem Regierungssitz gab die Polizei Warnschüsse ab, bevor sie gegen die Demonstranten vorging. „In der Kasbah ist die Lage katastrophal“, twittert die bekannte Bloggerin und Aktivistin Lina Ben Mhenni und fordert die Polizei auf, „die Gewalt sofort einzustellen.“

Am Nachmittag versammelten sich auch im nahegelegenen Karthago vor dem Präsidentenpalast mehrere Hndert Menschen. Dort amtiert der Übergangspräsident und frühere Senatsvorsitzende Fouad Mebazaa sowie die Regierung Ghannouchis. Diese hat ihren eigentlichen Amtssitz in der Kasbah verlassen, nachdem dort seit Sonntag erneut Tausende von Demonstranten rund um die Uhr ein Sit-in abhalten. Ein starkes Armeeaufgebot sperrte den Weg zum Palast. Hubschrauber überflogen sowohl Tunis als auch Karthago.

„Wir trauen der Regierung nicht, wir wollen eine verfassungsgebende Versammlung“, erklärte Ben Mhenni vor den Polizeiübergriffen am Telefon. Zwar hat Ministerpräsident Ghannouchi eine Kommission eingesetzt, die die derzeitige Verfassung und das Wahlgesetz reformieren soll, doch die Teilnehmer der Demonstration geht dies nicht weit genug. Sie wollen nicht am Präsidentialsystem festhalten. Ihr Ziel ist die Wahl einer Versammlung, die eine neue Verfassung ausarbeitet, die sich vor allem auf das Parlament stützt.

Der von der Regierung Ghannouchi angestrebte Übergang zur Demokratie ist eigentlich gar nicht machbar. Denn die derzeitige Verfassung sieht vor, dass im Falle eines Rücktritts oder des Todes des Staatsoberhauptes binnen 60 Tagen ein neuer Präsident gewählt werden muss. Ben Ali ist vor 43 Tagen nach Saudi Arabien geflohen. Damit wird sich Tunesien binnen 17 Tagen ausserhalb der aktuellen Rechtsordnung befinden.

Der Juraprofessor und Verfassungsrechtler Kayès Said plädiert deshalb für eine „Periode des Nicht-Rechts“. Ähnlich wie in Spanien nach dem Tod von Diktator Franco 1975, in Portugal nach der Nelkenrevolution 1974 oder in Osteuropa nach 1989 könne nur so eine neue Rechtsordnung entstehen, erklärte er am Mittwoch auf einer Versammlung von Hunderten von Studenten an der Universität in Tunis. Die derzeitige Verfassung aus dem Jahr 1959 sei nicht demokratisch reformierbar. „Sie personifiziert die Macht“ und habe dazu geführt, dass Tunesien seit der Unabhängigkeit nur zwei Präsidenten hatte./Foto: Aichek mon amie!

Was bisher geschah: