© 2009 Reiner Wandler

Berufskrankheit

„Déformation professionnelle“ – „Berufskrankheit“ nennt ein Freund die Angewohnheit von uns Journalisten, täglich an den Kiosk zu gehen, um alle möglichen Zeitungen zu kaufen. Auch ich bin davon befallen. Solange ich nur die geringste Chance sehe, mit meinen Fremdsprachenkenntnissen etwas zu verstehen, decke ich mich allmorgendlich mit einem Packen Tageszeitungen ein. So auch auf meiner jüngsten Reise nach Tunesien. Wie überall in Nordafrika erscheinen neben den arabischsprachigen Zeitungen auch Blätter auf Französisch. „Le Temps“ und „La Presse“ heißen die beiden wichtigsten Veröffentlichungen, die ich beim Frühstück auf der Suche nach Neuigkeiten durchstöbere. Es ist ein Erlebnis, wie ich es seit dem Mauerfall vermisst habe. Ich tauche in die schöne, neue Welt Tunesiens ein.

Es vergeht kaum ein Tag ohne Foto von Präsident Zine el Abidine Ben Ali auf den Titelblättern. Knapp einen Monat nach der Wiederwahl mit 89,28 Prozent zur fünften Amtszeit an der Staatsspitze empfängt der einstige General noch immer „Glückwünsche der Zivilgesellschaft“. Tag für Tag berichtet „La Presse“ auf Seite 1 von Organisationen, die den Präsidenten zu seinem enttäuschenden Abschneiden – vor zehn Jahren erzielte er über 99, vor fünf Jahren 94 Prozent – gratulieren. Ortsverbände der Präsidentenpartei RCD, Gewerkschaften, der tunesischen Freizeitverband oder das Sozialwerk der Journalisten schicken Telegramme. Botschaftern aus allen Herren Ländern schütteln Ben Ali die Hand. Dies ist ein willkommener Anlass, um bis zu einem Dutzend Fotos des geliebten Landesvaters auf einer einzigen Seite unterzubringen.

Der ehemalige General, der 1987 mittels eines unblutigen Putsches seinen Ziehvater, den Führer der tunesischen Unabhängigkeit Habib Bourgiba, wegen „Alterssenilität“ stürzte, ist ein guter Präsident. Daran lässt „Le Temps“ keinen Zweifel. Das sich „unabhängig“ nennende Blatt meldet am 19. November Vollzug. Ben Ali habe die wichtigsten Wahlversprechen nach nur vier Wochen so gut wie umgesetzt. Wo sonst auf der Welt ist eine Regierung so effektiv?

Wer glaubt, dass sich der Staatschef nun die nächsten knapp fünf Jahre zufrieden in seinem Palast in Karthago zurücklehnen kann, wird bei der morgendlichen Lektüre eines Besseren belehrt. Der Vater aller Tunesier ruht nie. Er nimmt an unzähligen internationalen Treffen teil, weiht Kongresse und Messen ein, gratuliert Prinz Albert zum Nationalfeiertag von Monaco, dem marokkanischen König Mohamed VI. zum Jahrestag der Unabhängigkeit oder wird selbst in „befreundeten Ländern“ geehrt. Und wenn Ben Ali nach langen, aufreibenden Auslandsreisen wieder in Tunis landet, ist auch das eine Schlagzeile wert.

Wer von soviel erfolgreicher Staatspolitik müde, seinen Lesespaß auf den Gesellschaftsseiten sucht, stößt auch dort wieder auf Ben Ali – nicht auf Zine el Abidine sondern auf seine Frau Leila. Die Vorsitzende der Arabischen Frauenorganisation ehrt Schauspielerinnen, eröffnet Empfänge, lässt sich als „moderne und bescheidene Intellektuelle“ portraitieren oder gibt Interviews im Ausland, die dann zu Hause nachgedruckt werden. „Ich bin eine Tunesierin wie all die anderen“, lautet eine der Schlagzeilen.

Auch die Flucht ins Internet schafft keine Abhilfe. Wer von Tunesien aus auf regimekritische Seiten zugreifen will, bekommt die Nachricht: „440 not found pages“. Mehrmaliges Betätigen der Enter-Taste beendet die Verbindung.

Kein Wunder, dass die großen Hotels der Hauptstadt ihre eigenen, fotokopierten Morgennachrichten auslegen. „Obama verlangt Online-Freiheit“ stand da jüngst zu lesen – leider nicht für Tunesien, sondern für China.

Was bisher geschah: