«Madrid mit einem Hafen am Meer.» Das war eine der Forderungen der Jugendkultur in der spanischen Hauptstadt, die Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre mit Fantasie, viel Lebensfreude und vor allem Lust auf gesellschaftliche Veränderungen versuchte, die gerade überwundene Diktatur endgültig zu beerdigen. Spanien ist heute ein demokratisches Land – doch Madrid ist, was es immer war: eine Ansammlung viel zu vieler Menschen im unwirtlichen Zentrum der Iberischen Halbinsel. Die Folge der lang vergangenen Extravaganz eines Königs, der sein Land direkt vom Mittelpunkt aus regieren wollte. Die Winter sind kalt, die Sommer viel zu heiss, und weit und breit gibt es kein nennenswertes Gewässer, geschweige denn ein Meer.
Was also tun im brütend heissen Sommer? Ganz einfach, einen Ort suchen, an dem es hin und wieder etwas windet und von dem aus zumindest ein Horizont auszumachen ist. Der Parque del Oeste, der Westpark, ist dieser Ort. Viele haben hier das Meer gesucht und manche auch gefunden. «Ich lebte in einem Stadtteil von Madrid mit Glocken, mit Uhren, mit Bäumen. Von dort aus sah man das trockene Antlitz Kastiliens, wie ein Ozean aus Leder», schrieb der chilenische Dichter Pablo Neruda, der in den dreissiger Jahren als Diplomat in Madrid lebte.
Der Literatur-Nobelpreisträger durfte den Blick auf den Parque del Oeste nur wenige Jahre geniessen. Dann brach der Spanische Bürgerkrieg aus. Neruda musste das Land verlassen und der erst 30 Jahre zuvor vom berühmten spanischen Architekten Cecilio Rodríguez auf einer Bauschutthalde gestaltete Park wurde völlig zerstört. Er wurde zur Front. Die republikanischen Kräfte verteidigten die verfassungsmässige Ordnung und die Hauptstadt zwischen Bäumen, Quellen und künstlichen Bächen gegen die heranrückenden aufständischen Truppen unter der Führung des späteren Diktators Francisco Franco.
Längst ist der Park wieder eine Oase inmitten der Grossstadt, eine Art Spiegelbild der grünen Täler der Sierra de Guadarrama. Wer nicht die Zeit hat, in die 50 Kilometer entfernten Berge von Madrid zu fahren, kommt hierher. Ein Bächlein plätschert, Quellen sprudeln, Bäume rauschen und die Wege winden sich die Hügel hinauf und hinunter. Nur einige Bunker erinnern noch an den blutigen Bruderkonflikt, der einst Land und Park heimsuchte. Heute sind sie ein Biotop für alle möglichen Vögel. In einem kleinem Observatorium lernen Grossstadtkinder, was sie sonst nur aus dem Fernsehen und aus Schulbüchern kennen.
Der Park ist voller Geschichte. In seinem unteren Teil liegt ein kleiner Friedhof, in dem die Opfer eines anderen Konfliktes beerdigt sind: Die Aufständischen, die sich am 2. Mai 1808 den Truppen Napoleons entgegenstellten und dafür – wie von Francisco de Goya verewigt – füsiliert wurden. Selbst die alten Ägypter sind vertreten. Hochzeitspaare lassen sich gerne vor dem Debod-Tempel (Foto) ablichten. Das Gebäude aus gelbem Stein stammt aus dem 4. Jahrhundert vor Christus und wurde den Spaniern von der ägyptischen Regierung für die Hilfe beim Bau des Assuan-Staudamms geschenkt.
Doch nicht vom Wissen und auch nicht vom Flanieren alleine lebt der Mensch. So enden die Besuche im Park wie fast alles in Spanien mit einer caña, einem kleinen Bier, in der Hand. Die Terrassen auf dem Boulevard Pintor Rosales laden ein. Der Sonnenuntergang wird zum Genuss, die Temperaturen sinken, der Wind frischt auf. Das Licht der tiefstehenden Sonne, die heisse Luft, die Wolken. So mancher Madrilene schwört, dass er es von hier aus gesehen hat, das Meer. Wie hiess es einst? «Die Fantasie an die Macht.»