© 2011 Reiner Wandler

Wo geht es hier bitte zur Demokratie?

Ob auf der Arbeit oder im Bistro, die Tunesier diskutieren und diskutieren. Wer wissen will über was, der muss einfach nur auf die Wände der Hauptstadt Tunis schauen. „Wir wollen kein Präsidentialsystem sondern eine parlamentarische Demokratie“, heißt es auf einen Bauzaun. Während in Ägypten die Armee mit eiserner Hand beschlossen hat, das Land in nur 10 Tagen mit einer reformierten Verfassung zu versehen, bereiten sich die Tunesier auf einen langen Selbstfindungsprozess vor.

„Ich fühle mich, wie wenn ein Chemiker durch die Straßen laufen würde, und überall sind Formeln angeschrieben“, sagt Ghazi Gherairi, der die Sprühereien mit seinem iPhone dokumentiert. Der Professor für öffentliches Recht ist Sprecher der Kommission, die Tunesiens Gesetze reformieren soll, um freie Wahlen zu garantieren. Seine Reformkommission sitzt zusammen mit zwei weiteren von der Übergangsregierung unter Ministerpräsident Mohammed Ghannouchi ins Leben gerufen, „öffentlichen und unabhängigen Institutionen“, zur Untersuchung der Repression und der Korruption, in einer ehemaligen Bank in Tunis.

„Wir arbeiten mit mehreren Hypothesen“, erklärt Gherairi. Eine Möglichkeit sei es, die aktuelle Verfassung leicht abgeändert beizubehalten, um dann einen Präsidenten und später ein Parlament zu wählen. Oder man arbeite zuerst eine ganz neue Verfassung aus. Entweder nach freien Präsidentschaftswahlen oder nach der Wahl einer verfassungsgebende Versammlung.

„Die Entscheidung wird im Dialog mit allen politischen Kräften und der Zivilgesellschaft fallen“, sagt Gherairi. Die Kommission lädt Parteien und Gruppierungen, sammelt die Meinungen, um dann einen Vorschlag auszuarbeiten. Der soll auf einer nationalen Konferenz diskutiert werden.

„Ideal wäre eine verfassungsgebende Versammlung und ein Referendum“, gibt der Gherairi seine „persönliche Meinung“ preis, warnt aber gleichzeitig davor, das „dies viel Zeit kostet, die wir nicht unbedingt haben.“ Denn Tunesien brauche so schnell wie möglich eine durch Wahlen legitimierte Regierung.

„Präsidentschaftswahlen in vier bis fünf Monaten können nur dazu führen, das jemand aus dem Umfeld der alten Regierungspartei RCD gewählt wird“, hält der Vorsitzende der kommunistischen POCT, Hamma Hammami, dagegen. Nach 23 Jahren Diktatur gibt es in Tunesien keine starke, politische Klasse. Der 59-jährige, der 13 Jahre in Haft saß, empfängt im Justizpalast, wo 28 Parteien und Gruppierungen die letzten Details für einen „Rat zum Schutz der Revolution“ diskutieren. Das Spektrum reicht von Linksaußen über Menschenrechts- und Frauenorganisationen, Vertreter der Gewerkschaft UGTT, Anwalts- und Richterverbände bis hin zu den Islamisten von Ennahda.

Sie alle eint der Wunsch nach einer parlamentarischen Demokratie. „Eine Präsidentialsystem kann eine neue personenbezogene Macht hervorbringen“, warnt Hammami. Es gelte zuerst mit dem ganzen verhassten System aufzuräumen, um dann mittels einer verfassungsgebenden Versammlung zur zweiten tunesischen Republik zu schreiten. Hammami redet von alten Strukturen in den Ministerien, der Verwaltung, der Polizei und den Medien und spricht der Übergangsregierung unter Ghannouchi, der bereits bei Ben Ali als Premier gedient hat, jede Legitimität ab.

„Wir weißen jedweden Versuch, die Revolution des tunesischen Volkes zu bevormunden“, verteidigt die Demokratisch Fortschrittlich Partei (PDP) das Vorgehen von Regierung und Reformkommission. Die PDP und die postkommunistische Ettajdid sind die einzigen Oppositionsparteien, die Ministerposten unter Ghannouchi angenommen haben.

Bei der Gewerkschaft UGTT, die eine Regierungsteilnahme abgelehnt hat, sorgt die Gründung des „Revolutionsrates“ für Diskussionen. Als „Revolutionsromantik“, bezeichnet der Verantwortliche für internationale Beziehungen der Gewerkschaft UGTT, Mustapha Ben Ahmed, die Ideen von Leuten wie Hammami, obwohl auch er die Gefahr sieht, die eine Präsidentschaftswahl vor einer grundlegenden Verfassungsreform birgt.

Die UGTT, die seit Jahren den Spagat zwischen Ben Alis Regime und der Opposition praktiziert hat, und die sich letztendlich hinter die Proteste stelle, die das Regime zum Einsturz brachten, könnte zum Opfer der sich zuspitzenden politischen Debatte werden. Zum einen verhandelt sie immer wieder direkt mit der Übergangsregierung, wenn es zum Beispiel um die Ernennung neuer Gouverneure in den Provinzen geht. Zum anderen hat sie Vertreter im „Revolutionsrat“. „Zwischen Macht und Gegenmacht“, heißt das Motto des UGTT-Vorstandes. Die Basis freilich scheint sich für Zweiteres entschieden zu haben.

Was bisher geschah: