© 2011 Reiner Wandler

Schneller, immer schneller

Der Rhythmus ist frenetisch. Seit am Freitag Abend Tunesiens Diktator Zine El Abidine Ben Ali aus dem Amt gejagt wurde, hat das Land schon den zweiten Übergangspräsidenten und die zweite Regierung. Diese stürzte am Dienstag in eine tiefe Krise, noch bevor sie ihre Arbeit aufnehmen konnte.

Die drei Minister für Verkehr, Arbeit und einer ohne Geschäftsbereich aus den Reihen der Gewerkschaft UGTT traten noch vor ihrer Vereidigung zurück. Der für den Gesundheitsminister vorgesehene Oppositionielle Mustapha Ben Jaafar tat es ihnen gleich. Ein anderer der insgesamt drei Oppositionspolitiker werde sein Amt ebenfalls wieder abgegeben, hieß es aus Gewerkschaftskreisen. Der Betroffenen war telefonisch nicht zu erreichen, um dies zu bestätigen oder zu dementieren. Die Politiker protestierten damit gegen die Präsenz herrausragender Vertreter des alten Regimes im neuen Kabinett.

Währenddessen gingen im Industriezentrum Sfax über 5000 Menschen aus den gleichen Gründen auf die Straße. Aus Sidi Bouzid, von wo die Revolution gegen Ben Ali im Dezember ihren Ausgang nahm, sowie aus Bizert, Kasserine und Regueb wurden ebenfalls Demonstrationen gemeldet. In der Hauptstadt Tunis wurde ein Protestmarsch mit rund Tausend Teilnehmern mit Tränengas aufgelöst.

Die Parolen richten sich gegen die alte Vertreter der Demokratisch-Konstitutionellen Sammlungsbewegung (RCD) von Ben Ali in der Übergangsregierung. Ihr gehören neben dem Premier Ghannouchi unter anderem der Innen-, Verteidigungs-, Finanz- und Aussenministerium angehören. Die RCD, die am Montag aus der Sozialistischen Internationalen ausgeschlossen wurde, soll 2,5 Millionen Mitglieder haben und kontrollierte alles im Lande. Wer ihr nicht angehörte, kam unter Ben Alis 23-jähriger Macht nicht weit. „RCD raus!“ skandierten die Demonstranten, unter denen sich in Tunis führende Mitglieder bisher verbotener marxistischer Gruppierungen, der kleinen Grünen Partei und der einst machtvollen islamistischen Bewegung Ennahda befanden.

Vor der Zentrale der UGTT in Tunis versammelten sich am Dienstag früh Hunderte von Gewerkschaftern, während der Vorstand zu einer Dringlichkeitssitzung zusammengekommen war. Viele Mitglieder der Einheitsgewerkschaft UGT hatten die Jugendrevolte seit Mitte Dezember aktiv unterstützt. Jetzt wollen sie die komplette Säuberung des Staates und seiner Institutionen von altgedienten Anhängern aus den Reihen der RCD.

Es kursieren Flugblätter mit Erklärungen verschiedener Regionalvorstände der Gewerkschaft, die bereits zu Zeiten der französischen Kolonie entstand und die ihre Unabhängigkeit auch in den Jahren der Diktatur Ben Alis zumindest an der Basis und im Mittelbau wahren konnte. „Wir lassen uns die Revolution nicht umdrehen“, wettert ein Mitglied aus der Region Jendouba im Nordwesten des Landes und erntete dafür Zustimmung.

Alle reden von Ghannouchi, der unter Ben Ali bereits Ministerpräsident war, bevor er am Freitag nach der Flucht des Diktators für knapp 24 Stunden das Amt des Staatsoberhauptes einnahm, um dies dann an den Senatspräsidenten Fouad Mebazaa abzugeben, um sich selbst an die Spitze einer Übergangsregierung zu stellen. „Zusammen mit dem Innenminister hat Ghannouchi die Flucht Ben Alis und seiner Familie ermöglicht. Er kann nicht in der Regierung bleiben“, sind sie sich einig. Es müsse jetzt eine „echte Alternative“ her. „Eine Regierung ohne RCD, nur aus Unabhängigen und Oppositionellen.“ Denn sollte das Land mit einer funktionierenden RCD auf allen Verwaltungsebenen zu den Wahlurnen schreiten, sei ein Wahlbetrug vorprogrammiert, befürchten sie.

Der Gewerkschaftsführung blieb letztlich nichts anderes übrig, als auf die Basis zu hören, und ihre drei Vertreter zum Rücktritt aufzufordern. „Wir folgen dem Aufruf unserer Gewerkschaft“, erklärte der designierte und schon wieder zurückgetretene Minister für Ausbildung und Beschäftigung Houssine Dimassi.

Die Unzufriedenheit mit der Übergangsregierung ist überall in Tunis zu spüren. Ob in Cafés oder auf der Straße, reden die Menschen von der kompletten Revolution. „Wir wurden lange unterdrückt und bestohlen, jetzt reicht es“, heißt einer der meistgehörten Antworten auf die Frage, was von der Übergangsregierung zu halten sei. Die RCD steht für die allgemeine Korruption. Die Nachricht, dass die Frau des gestürzten Präsidenten Leila Ben Ali geborene Trabelsi, bei ihrer Flucht 1,5 Tonnen Gold aus der Staatsbank hatte mitgehen lassen, bestärkt die Tunesier in ihrer Wut auf alles Alte noch.

„Nazipartei“ nennt Sihem Bensedrine die alte Garde. Die aus dem Exil in Spanien zurückgekehrte Menschenrechtlerin und Journalistin öffnete am Montag vor geladener Presse symbolisch wieder das Büro ihres bis Freitag verbotenen Internetradios Kalima. „Das ist die alte Regierung Ben Alis, mit ein paar Oppositionellen dekoriert“, wettert sie. „Wir lassen uns keine Angst mehr machen. Zuerst hieß es, Ben Ali oder die Islamisten. Sehen sie in Tunesien Talibanen? Ich nicht!“ Jetzt heiße es Ghannouchi oder das Chaos. „Dabei sind es die Anhänger von Ben Ali, die das Chaos sähen wollen. Das Volk zeigt große Verantwortung und bewacht jeden Quadratzentimeter dieses Landes“, lobt die Menschenrechtlerin die Selbstverteidigungskommitees, die spontan in den Stadtteilen entstanden sind. Bensedrine fordert eine Verfassungsgebende Versammlung und einen wirklichen Neuanfang.

Auch die eigentlichen Protagonisten der Jasminrevolution, wie sie es nennen, die jungen Menschen, die sich das Internet zu eigen machten, um zu informieren und mobilisieren sehen die Entwicklung skeptisch. „Ich bin alles andere als zufrieden“, erklärt Lina Ben Mhenni. Die 27-Jährige unterhält seit 2007 ihren Blog und schreibt bei globalvoicesonline.org. Sie war von Tunis ins Herzen der Revolte nach Sidi Bouzid und Kasserine gereist, um von dort authentische Informationen zu übermitteln. Auch sie hofft darauf, dass alle RCDler aus Regierung und Staat verschwinden, obwohl sie „über die Interimsregierung noch kein endgültiges Urteil“ habe.

Ein Blogger tat sich mit der Situation besonders schwer: Slim Amamou, der die letzten Tage unter Ben Ali in Haft verbrachte und unmittelbar nach dessen Rücktritt freigelassen wurde. Er ist seit Montag Staatssekretär für Sport und Jugend. Am Dienstag twitterte Slim404 fröhlich von der ersten Kabinettssitzung. „Ich werde nicht zurücktreten, um es den anderen gleichzutun. Ich trete zurück, wenn ich das für mich entscheide“, lautete sein Tweet, als die Entscheidung der drei Vertreter der UGTT bekannt wurde.

Was bisher geschah: