© 2009 Reiner Wandler

"Stabilität ohne Freiheit ist nicht möglich"

Jedes Jahr fahren Millionen Touristen nach Tunesien. Für sie stellt sich das nordafrikanische Land als ein modernes, arabisches Land dar. Sie hingegen reden von einer Diktatur. Wie kann das sein?

Die Touristen sehen nur eine Fassade. In Tunesien gibt es keinerlei politische Freiheiten. Das Regime von Ben Ali lässt selbst eine gemäßigte Opposition nicht frei arbeiten. Das erleben wir zur Zeit im Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen am kommenden Sonntag. Es ist eine große Farce. Die Oppositionskandidaten werden behindert, wo es nur geht. In der Presse kommt die Opposition so gut wie nicht vor. Ihr Propagandamaterial wird, wenn überhaupt, zu spät gedruckt. Sie werden am Plakatieren gehindert. Präsident Ben Ali tut alles, um seine Wiederwahl zu garantieren. Er ist so eine Art Präsident auf Lebenszeit.

Sie sind anlässlich der Wahlen in ihre Heimat zurückgekehrt. Können Sie sich frei bewegen?

Nein. Ich hatte eigentlich eine Reise in den Nordwesten des Landes geplant. Wir wurden gestoppt und vier Stunden lang festgehalten. Dann wurde uns mitgeteilt, dass wir ohne Genehmigung der Polizei und des Innenministeriums nicht weiterreisen können. Heute wurde meine Kollegen des Nationalen Rats für Freiheit in Tunesien (CNLT) von 20 Polizisten daran gehindert, unser Büro in der Hauptstadt zu betreten.

Die Journalistin und Sprecherin des Nationalen Rats für Freiheit in Tunesien (CNLT), Sihem Bensedrine (58), ist eine der bekanntesten Kritikerinnen des tunesischen Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali. Sie ist seit 1980 für Menschen- und Bürgerrechte in ihrer Heimat aktiv. 2001 wurde sie nach Publikationen über Korruption und Folter inhaftiert. Das Büro von Sihem Bensedrine wurde immer wieder aufgebrochen und durchsucht. Telefon und Fax werden gekappt, so auch während dieses Interviews. Schließlich wird Bensedrine auf offener Straße von zwei maskierten Männern überfallen und geschlagen. Um der ständigen Repression zu entgehen, lebt sie seit einigen Jahren in Deutschland und Österreich. 2002 erhielt sie den deutschen Johann Philip-Palm-Preis für Meinungs- und Pressefreiheit. 2008 wurde sie zur Grazer Asylautorin ernannt. Zum Wahlkampf ist sie in ihre Heimat zurückgekehrt. /foto: Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte.

Aber sie betreiben weiterhin ihren Radiosender Kalima?

Ja wir machen Radio. Unserer Reporter arbeiten unter extrem schwierigen Bedingungen und wir senden von Europa aus. Unser tunesisches Büro wurde im Januar geschlossen. Die Polizei hat alles Material beschlagnahmt. Und gegen mich läuft ein Verfahren wegen illegaler Benutzung einer Frequenz.

Gibt es unter solchen Bedingungen überhaupt noch so etwas wie eine Zivilgesellschaft?

Es gibt kleine Gruppen, die sich für Bürgerrechte einsetzten. Aber sie haben keinerlei Öffentlichkeit. Sie können nichts veröffentlichen, können keine Kundgebungen abhalten. Das geht soweit, dass das Regime formal, unabhängige Organisationen wie die Gewerkschaften kontrolliert. Als in der Journalistengewerkschaft ein unabhängiger Vorstand gewählt wurde, organisierten regimetreue Mitglieder einen Putsch und setzten so den Vorstand ab.

Aber zum Glück gibt es Internet. Das dürfte doch zumindest für die Jugend eine unabhängige Informationsquelle sein?

Ja, Internet ist so etwas wie ein Fenster zur Freiheit. Soziale Netzwerke wie Facebook sind sehr populär. Sie bieten die Möglichkeit zum freien Austausch mit anderen, auch außerhalb des Landes. Aber das Regime kontrolliert auch das Internet. Die Polizei hat Spezialeinheiten, die das Netz durchforsten und kritische Webs sperren lassen. Emails werden kontrolliert. Es wird auch genau überprüft, wer Zugang zum Internet bekommt. Die Internetcafés werde ebenfalls überwacht. Wer dort ins Netz geht, bekommt eine Zugangsnummer. Diese lässt sich zurückverfolgen.

Der Iran genießt seit den Wahlen eine große internationale Öffentlichkeit. Bei Tunesien schaut Europa weg.

Die Diktatur in Tunesien wird von Europa und dort vor allem Frankreich und auch Deutschland unterstützt. Dabei ist die Situation in Tunesien wesentlich schlimmer als im Iran. Dort sind immerhin Demonstrationen möglich. In Tunesien ist jedwede öffentliche Aktion verboten. Die Überwachung durch die Polizei ist allgegenwärtig.

Warum unterstützt Europa Ben Ali?

Für Europa ist Ben Ali ein Garant im Kampf gegen den religiösen Extremismus. Tunesien gilt als äußerst stabiles Land. Deshalb ist er einer der wichtigsten Alliierten Europas. Dabei wissen die Europäer sehr genau, dass Tunesien ein totalitäres und auch extrem mafiöses Regime ist. Der Clan von Ben Ali bereichert sich grenzenlos. Das schadet auch den wirtschaftlichen Perspektiven des Landes.

Europa setzt auf Stabilität statt auf Freiheit. Ist das nicht gefährlich? Im Nachbarland Algerien wird der Bevölkerung ebenfalls jegliche demokratische Form ihren Unmut zu äußern verwehrt. Die Folge sind ständig wiederkehrende Gewaltausbrüche.

Stabilität ohne Freiheit ist auf Dauer nicht möglich. Das gilt auch für Tunesien. Die vermeintliche Stabilität wird nicht lange anhalten. Wenn Menschen verfolgt werden, die einen friedlichen, demokratischen Wandel herbeiführen wollen, stärkt das diejenigen, die auf eine gewaltsame Veränderung setzen. Und wenn es zu einem Bruch an der Staatsspitze kommen sollte, sind wir wesentlich größeren Gefahren ausgesetzt. Die Stabilität ist also nur eine Fassade. Sie verdeckt die eigentliche Situation. Wer glaubt zwischen Stabilität und Freiheit wählen zu können, setzt das Land erst recht der Gewalt und dem religiösen Extremismus aus.

Was bisher geschah: