Der tunesische Präsident Béji Caid Essebsi war Teil des „Systems der Tyrannei“. Zu diesem Schluss kommt die tunesische Wahrheitskommission „Instanz für Wahrheit und Würde“ (IVD) in ihrem sechsbändigen Abschlussbericht, der am Dienstag Abend öffentlich vorgestellt und anschließend online veröffentlicht wurde. Essebsi soll Folter und Repression „befohlen, vorbereitet und vertuscht“ haben.
Der 92-jährige Staatschef gehört zu den Veteranen des Regimes zuerst unter Habib Bourguiba und dann unter seinem 2011 durch die „Nelkenrevolution“ gestürzten Zine el-Abidine Ben Ali. Er hatte das Amt des Sicherheitschefs und später das des Innen-, des Aussen- und Verteidungsministers inne. Erst in den letzten Jahren der Herrschaft Ben Alis ging Essebsi zum Regime auf Distanz. Das ermöglichte ihm nach der Revolution ein Come Back als Staatspräsident.
Die Ende 2013 unter dem Vorsitz der bekannten Oppositionellen und Menschrechtsaktivistin Sihem Bensedrine gegründete IVD fordert von Essebsi eine Entschuldigung. In wie weit aus dem, was im Bericht aufgeführt ist, richterliche Schritte folgen, wird sich zeigen müssen. Essebsi ist der Ranghöchste unter den Politikern, die heute im Amt sind, obwohl sie in die dunkle Vergangenheit ihres Landes verstrickt waren.
Die IVD hat insgesamt Material über 62.720 Fälle gesammelt. 14 Sitzungen der IVD wurden live im Fernsehen übertragen. Der Untersuchungszeitraum reichte von 1955, einem Jahr vor der Unabhängigkeit von Frankreich bis 2013, zwei Jahre nach der Revolution. 173 der Fälle werden mittlerweile richterlich untersucht. Weitere Fälle werden folgen. Bisher wurden umgerechnet rund eine Million Euro Entschädigung an Opfer und deren Familien ausbezahlt. Unter den aufgeführten Opfern befinden sich auch die von knapp 1.800 antikoloniale Widerstandskämpfer, die Opfer der Repression durch die französischen Besatzer wurden.
„Wir arbeiteten in einer feindlichen Umgebung“, beschwerte sich IVD-Vorsitzende Bensedrine immer wieder. Auch im Bericht wird die mangelnde Kooperation seitens staatlicher Stellen bedauert. So blieben der Kommission mehrere Archive verschlossen, unter anderem das des Präsidialamts. Staatschef Essebsi hatte sich immer wieder gegen die IVD ausgesprochen. Sie sei „ein Staat im Staate“. Es sei „falsch alte Rechnungen zu begleichen“, sprach er sich gegen die Kommission aus, die eigentlich der Aussöhnung dienen sollte. Neben Menschenrechtsverletzungen untersuchte die IVD auch das Geflecht der Korruption, das der gestürzte und nach Saudi Arabien geflohene Diktator Ben Ali aufgebaut hatte. Mehrere Unternehmer zahlten unter Druck der IVD hohe Beträge an den sogenannten „Würde- Fond“, mit dem Opfer entschädigt wurden und weiterhin entschädigt werden sollen. Bis zu 25.000 Fälle könnten Anspruch haben.
„Wir haben aufgedeckt, wie die Maschinerie funktionierte und wie wir handeln müssen, um zu verhindern, dass das wieder passiert“, erklärte Bensedrine bei der Vorstellung des Berichts, in dem der Regierung unterschiedliche Maßnahmen empfohlen werden: Unter anderem eine unabhängige Instanz zur Überwachung und Umstrukturierung der Polizei, sowie ein Gesetz, dass die Unabhängigkeit des Rechnungsprüfungshofs garantieren soll, der bisher direkt der Regierung untersteht.
Die Regierung die sich ebenso wie das Präsidialamt bisher zu Bericht und den darin enthaltenen Anschuldigungen gegen Staatschef Essebsi ausschweigt, hat jetzt ein Jahr Zeit zu reagieren. Sie müsse „konkrete Maßnahmen ergreifen und das Modell der Straflosigkeit durchbrechen, das den Fortschritt der Menschenrechte seit Jahrzehnten behindert hat“, verlangt die für Tunesien zuständige Sprecherin der internationalen Menschenrechtsorganisation Amnesty International Fida Hammami.