© 2013 Reiner Wandler

Leben im Fastenmonat Ramadan

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Im Ramadan – dem islamischen Fastenmonat – ticken die Uhren anders. Das bekommt der „ungläubige“ Besucher schnell zu spüren. Alles geht langsamer, die Reizschwelle vor allem bei Rauchern, liegt gefährlich niedrig. Aber die Menschen versuchen dennoch freundlich und hilfsbereit zu sein. Wann sonst bleibt ein Auto mitten auf einer vielbefahrenen Kreuzung liegen und die Polizisten schieben es an, anstatt dem Fahrer einen Strafzettel zu verpassen?

Ich verbrachte mehrmals Zeit während des heiligsten aller Monate in Nordafrika. Vor allem in den 1990er Jahren, als Algerien im Terror versank, hielt ich mich dort auf. Doch hier soll nicht von Gewalt die Rede sein, sondern vom Alltag. Ohne Essen ohne Trinken und ohne zu rauchen von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Das ist eine harte Prüfung, der sich auch der Besucher nur schlecht entziehen kann. Vor allem wenn er – so wie ich damals – nicht in einem der internationalen Hotels lebt, die auch Tags über eine Snackbar unterhalten, sondern in seinen eigenen vier Wänden, und wenn er zum Arbeiten unter Menschen muss.

Essen vor Einheimischen verbietet sich von selbst. „Machst Du Ramadan?“ wurde ich immer wieder gefragt. „Ja – es bleibt mir ja keine andere Wahl“, war meine übliche Antwort, in einem Ton irgendwo zwischen Respekt vor dem anderen und Resignation. Die Menschen dankten es mir. Ein Polizist, mitten im terrorgeplagten Gebirge irgendwo zwischen Algier und Oran, fiel mir um den Hals und gab mir ganz im Stile algerischer Männerfreundschaften drei Küsse abwechselnd auf die Wangen.

Wenn wir – mein junger Chauffeur und ich – nicht rechtzeitig zum Fastenbrechen zurück sein konnten, hatten wir immer ein Essenspaket im Kofferraum. Mama verwöhnte uns: Die Tüte enthielt geschmierte Brote, Obst, zwei Liter Cola und mindestens eine Zigarette für jeden von uns. Sobald der Muezzin das Ende des Fastentags vom Minarett verkündete, fuhren wir rechts ran und fielen ausgehungert und ausgedurstet darüber her. Ein gefährliches Unterfangen: Denn der Straßenverkehr ist in diesen alles entscheidenden Minuten verrückter als er in Nordafrika eh schon ist. Alle rasen was das Zeug hält, um schnell an den gedeckten Tisch zu kommen. Und der verspricht, wie ich dank so mancher Einladung weiß: Vier, fünf Gänge, Tee, Gebäck …

Im Ramadan nimmt man zu, auch wenn es nur nach dem Fastenbrechen und vor Sonnenaufgang zu Essen gibt. Ein Siesta nach dem Abendessen direkt auf dem Sofa vor dem leergespeisten Tisch ist unumgänglich. Danach geht es bis in die späten Nachtstunden auf die Straße. Hier ein Schwätzchen, dort ein Tee …

Wer sich im Ramadan bewegt, erlebt die Doppelmoral, wie sie auch anderen Religionen eigen ist. Mir ist vor allem einer der Ausflüge in die Kabylei, der Berberregion Algeriens, in Erinnerung. Ich besuchte Freunde und Angehörige eines im Jahr zuvor ermordeten, bekannten Liedermachers in einem kleinen Bergdorf. „Möchtest Du einen Kaffee?“ wurde ich gefragt. Ich lehnte dankend ab, obwohl es mir sehr schwer fiel. „Wer sagt Dir denn, dass wir uns ans Fasten halten?“ bekam ich zur Antwort. Kaffee, Gebäck, Zigaretten … es fehlte uns während des langen Gesprächs an nichts.

Als ich zum Wagen zurückkehrte, fand ich meinen völlig verärgerten Chauffeur vor. „Das ist unglaublich. Hier lief einer vorbei und trank eine Limo, der nächste rauchte und einer ass sogar ein belegtes Baquette. Die Berber ticken anders“, sagte er. Ich glaube er wäre in diesem Moment selbst gerne anders gewesen.

In Marokko lernte ich auf einer meiner Reisen einen Lehrer kennen, der sich als „Atheist“ outete. Diese Spezie ist selten im Maghreb und wenn, dann gibt es niemand offen zu. Der Ramadan war gerade vorbei. Der Veteran der Brotsaufstände in den 1980er war zutiefst betrübt. „Der letzte noch Standhafte aus unserem Klüngel hat dieses Jahr auch gefastet“, erzählte er mir. Es werde einsam um ihn, fügte er mit trauriger Stimme hinzu.

Der arabische Frühling in Tunesien bringt wieder Bewegung ins Verhältnis zu Tradition und Bräuchen. In den sozialen Netzwerken bekennen sich vor allem junge Menschen ganz offen dazu, die religiösen Regeln nicht einzuhalten. Sie veröffentlichen Fotos auf denen sie am hellichten Tag essen, trinken, rauchen. Sie laden sich gegenseitig ein, veröffentlichen Adressen von Orten, an denen ungestört den verbotenen Gelüsten gefrönt werden kann. Mehrere Tausend Benutzer, vor allem in der Hauptstadt Tunis, zählen die Gruppen im Netz.

Doch auch die gegenteilige Tendenz ist zu spüren. In meinem Stammhotel in Tunis, in dem ich die Tage des Umsturzes verbrachte, nahm der Nacht-Concierge bei meinem letzten Besuch vor ein paar Monaten zwar meine Bestellung für ein Bier entgegen, ich musste es aber selbst aus dem Kühlschrank hinter der Theke holen. „Ich fasse keinen Alkohol an“, erklärte er. Ein Kollege und ich sind uns sicher, dass wir ihn vor dem Wahlsieg der Islamisten im Oktober 2011 beim Biertrinken gesehen haben.

Was bisher geschah: