© 2013 Reiner Wandler

Wird sich Tunesien anstecken?

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„Das Regime der Muslimbrüder in Ägypten gestürzt. Das Volk jubelt“, titelte die größte arabophone Tageszeitung Tunesiens Achourouk  am Tag nach der Absetzung des ägyptischen Präsident Mohamed Morsi. „Die Pharaonen lassen die Adler aus Karthago hinter sich“, bedient sich die frankophone Le Temps einer Metapher aus dem afrikanischen Fußball. Am 14. Januar 2011 legte Tunesien mit dem Sturz des Diktators Zine El Abidine Ben Ali vor. Die Ägypter folgten knapp einen Monat später, und entmachteten Husni Mubarak. Jetzt nach dem Sturz des Islamisten Morsi stehe es 2:1 für die „Pharaonen“.

„Wird Tunesien der Ansteckungsgefahr entkommen?“ fragt La Presse, wohl wissend, dass sich viele im Geburtsland des arabischen Frühlings eine zweite Revolution wünschen. Erstmals seit den Protesten die zum Sturz Ben Alis und Wochen später zum Ende der ersten Übergangsregierung führten, meldet sich die Jugend wieder zu Wort. Wie in Ägypten heißt das Bündnis gegen die islamistische Ennahda, die zusammen mit zwei kleinen säkularen Parteien das Land regiert, Tamarrod (Rebellion).

„Die tunesische Jugend tritt in die Fußstapfen der jungen Ägypter. Wir sind mit dem was im Land passiert unzufrieden, die Angriffe auf die Freiheiten, die schlechte Wirtschaft und der sozialen Situation“, erklärt Tamarrod-Sprecher Mohamed Bennour. Knapp eine Million Unterschriften – bei knapp elf Millionen Einwohner – wollen die jungen Menschen bisher unter einem Aufruf für die Auflösung von Regierung und Übergangsparlament bereits gesammelt haben. Die Gruppe verlangt eine breite Übergangsregierung, die so schnell wie möglich die Verfassung fertigstellt und Neuwahlen ansetzt. Das bisherige Parlament sei von Ennahda vor allem dazu genutzt worden, um die Religion in der Gesellschaft zu verankern. Tamarrod will zwei Millionen Unterschriften sammeln und dann zu Großdemonstrationen rufen.

Nicht nur für Tamarrod, für die gesamte säkulare Opposition entbehrt die Ennahda-Regierung jeglicher Legitimität. Denn als die Tunesier im Oktober 2011 zu den ersten freien Wahlen ihrer Geschichte schritten, war klar, dass Regierung und Parlament nur ein Jahr im Amt bleiben sollten. In dieser Zeit sollten eine neue Verfassung für eine „Zweite Republik“ ausgearbeitet und erneute Wahlen vorbereitet werden.

Doch die Magna Carta ist bis heute nicht druckreif. Zu viel Zeit verlor das Parlament im Streit um islamistische Vorschläge, die Religion und islamisches Recht im Verfassungstext zu verankern. Auch wenn dies letztlich nicht gelang, verzögerte sich die Übergangsphase. Ennahda nutzt die Zeit, um Staat und Gesellschaft nach ihrer Ideologie umzubauen. Staatsfernsehen, staatliche Unternehmen, Polizei und selbst Armee sind mittlerweile weitgehend in den Händen der Islamisten. Zuletzt wurde Armeechef Rachid Ammar in den Ruhestand geschickt. Ammar erfreut sich besonderer Beliebtheit, da sich seine Soldaten in den wirren Tagen nach dem Sturz Ben Alis hinter die Proteste der Bevölkerung stellten.

Wirtschaftlich versagt die Regierung total. Seit dem Sturz Ben Alis verschärft sich die Wirtschaftskrise in Tunesien. Ausländische Firmen drosseln ihre Investitionen, der Tourismus geht zurück, die Arbeitslosigkeit steigt. Im Landesinneren, von wo einst die Proteste gegen Ben Ali ausgingen, nimmt die Armut zu.

Immer wieder kommt es zu massiven Protesten, zuletzt im Februar nach der Ermordung des bekannten, linken Oppositionspolitikers Chokri Belaid. Die Opposition sieht hinter der Tat, die bis heute nicht aufgeklärt wurde, die lange Hand von Ennahdas und ihrem Umfeld. Nach tagelangen Protesten trat damals Regierungschef Hamid Jebali zurück. Sein Nachfolger ebenfalls aus den Reihen der Ennahda, nahm unabhängige Minister ins Kabinett auf.

„Wir wünschen uns nicht die gleiche Situation wie in Ägypten, aber die gleichen Ursachen führen zu den gleichen Auswirkungen“, warnt Béji Caid Essebsi, Vorsitzender säkularen Zentrumspartei Nida Tounes und Chef der Übergangsregierung, die die Wahlen im Oktober 2011 vorbereitete. Die erst nach dem Urnengang gegründete Formation liegt bei jüngsten Umfragen deutlich vor Ennahda, die ein Drittel ihrer Unterstützung verloren hat. „Die ägyptischen Islamisten haben wie in Tunesien auch einen politischen Staatsstreich durchgeführt. Sie haben ein Projekt für einen radikalen Wandel der bisher offenen Gesellschaften. Sie glauben, dass wer gewählt wurde, von Gott gesandt ist“, heißt es in einem Kommuniqué der Partei zur Bewertung der Vorgänge in Ägypten.

Es sei an der Zeit auch in Tunesien „den gesamten demokratischen Übergangsprozess zu überdenken“. Ähnlich wie Tamarrod verlangt Nida Tounes „die Auflösung der Regierung und die Bildung eines Kabinetts der nationalen Rettung“. Die linke Front Populaire – Nummer Drei bei den jüngsten Umfragen – und die mächtige Gewerkschaft UGTT schließen sich dem an. Ex-Armee-Chef Ammar könnte, so ein hartnäckiges Gerücht auf Newsseiten im Internet, von Nida Tounes als Präsidentschaftskandidat aufgestellt werden, um alle säkularen Stimme auf sich zu vereinen.

Auf Seiten der Regierung ist die Nervosität zu spüren. „Die Putschisten in Ägypten und Tunesien haben sich entlarvt“, wettert Hamid Jebali, Generalsekretär der Ennahda gegen die tunesische Opposition, während der ansonsten eher radikalere Parteivorsitzende und Gründer von Ennahda, Rachid Ghannouchi, versucht zu beschwichtigen: „Bestimmte Jugendliche glauben, sie könnten das in Tunesien wiederholen, was in Ägypten passiert ist. Aber das ist ein sinnloses Unterfangen“, sagt Ghannouchi, der unter Ben Ali im Exil in Algerien und dann in London lebte. „Wir brauchen keinen Staatsstreich um zu wissen, dass wir den Übergangsprozess beschleunigen müssen“, erklärt er in einem Interview. Ghannouchi, verspricht eine Fertigstellung der Verfassung bis zum Jahresende und fordert Dialog, „um dem Land das Risiko der Spaltung zu ersparen“.

Was bisher geschah: