Unverputzte Hohlblockbauten, notdürftig zusammengezimmerte Fenster und Türen, hinter manchen Mauern ist sogar nur eine Folie als Zelt aufgespannt – wir befinden uns irgendwo zwischen Temara und dem wirtschaftlichen Herzen des Landes, Casablanca. Das Gelände hat der Staat zur Verfügung gestellt. Um den Bau der Häuser müssen sich die Leute selbst kümmern. „Neuansiedlung“ nennen sie das in den Amtsstuben der Hauptstadt.
Doch es fehlt an allem. Die Schneisen zwischen den Häusern, die auf den Plänen als Straßen eingezeichnet sind, wurden nicht planiert. Die Hügellandschaft aus Bauschutt und Erde verwandelt sich bei jedem Regen in ein Schlammbad. Trinkwasser holen die Menschen aus einem Brunnen, und Strom zapften sie von den Laternen ab.
„Nur die Hälfte der Kinder hier geht zur Schule“, berichtet Mohamed, der außer seinem Alter „Mitte 30“ nicht viel von sich preis geben will. In einer Baracke bringt der junge Akademiker einem Teil von denen, die außen vor bleiben, das Lesen, Schreiben und Rechnen bei.Mohamed kommt als Freiwilliger hierher. Er gehört zu einer der zahlreichen islamistischen Wohlfahrtsorganisation, die da einspringen, wo der Staat versagt.
Die Islamistenorganisationen, wie Al Adl Wal Ihssane (Gerechtigkeit und Wohltätigkeit) stoßen vor allem in den Außenbezirken der großen Städte auf Sympathie. Sie nutzen die von ihnen kostenlos angebotenen Ärztebesuche und Alphabetisierungskurse für Propaganda. Den für ihre Arbeit notwendigen Nachwuchs gewinnen die Islamisten an den Hochschulen des Landes. „Der Durchschnittsbürger lebt genauso wie vor zehn Jahren“, urteilt Nadjia Yassine, Vorsitzende von Al Adl Wal Ihssane, auf die Frage nach den von König Mohamed VI. immer wieder versprochenen Sozialreformen.
Nicht nur die Elenden der Gesellschaft leben in solch prekären Situationen. Die Wohnungen in den großen Städten sind teuer. Wo nur einer in der Familie arbeitet und mehrere Kinder da sind, reicht auch oft das Gehalt eines kleinen Beamten nicht für viel mehr als für eine selbstgezimmerte Bleibe irgendwo außerhalb. Der SMIC – der gesetzliche Mindestlohn – beläuft sich auf 2110 Dirham pro Monat, das macht umgerechnet rund 200 Euro. Fünf Millionen Menschen leben von weniger als einen Euro am Tag.
Alleine im Großraum Casablanca gibt es über 300 Bidonville-Siedlungen, wie hier die Slums heißen. Mehr als 8 Prozent der Bevölkerung rund um Casablanca haust in diesen prekären Unterkünften. In den letzten Jahren rufen immer mehr Stadtverwaltungen Programme ins Leben, um ihre Kommunen „slumfrei“ zu machen. Doch diese kommen nur schleppend voran.
„Die soziale Lage im Land ist der gröbste Verstoß gegen die Bürgerrechte“, beschwert sich Mohamed Boukili, ein Vertreter der Marokkanischen Vereinigung für Menschenrechte (AMDH). Den einzigen Bereich, in dem auch er eine deutliche Besserung ausmacht, ist das Bildungssystem. Die Anlaphabetenrate ist von über 50 Prozent noch vor zehn Jahren auf derzeit 40 Prozent gesunken. Immer mehr Kinder schließen erfolgreich die Schule ab. Die Zahl der Hochschulabsolventen steigt ebenfalls, nicht zuletzt, weil auch immer mehr junge Frauen auf die Universität gehen. Doch der Arbeitsmarkt hält bei dieser Entwicklung nicht mit. Mehr als jeder vierte Hochschulabgänger ist arbeitslos und das in einem Land, in dem mehr als zwei Drittel der Bevölkerung unter 35 Jahre alt sind. Immer wieder ziehen arbeitslose Akademiker vor das Parlament in Rabat und fordern vergebens einen Posten in Staat und Verwaltung.
Die Wirtschaft Marokkos bietet wenig Chancen. Die Haupteinahmequellen des Landes sind neben Tourismus und Landwirtschaft die Überweisungen der Immigranten in Europa und in Übersee. 6,4 Milliarden Dollar schickte sie im Jahr 2010 nach Hause. Die rund 2,5 Millionen Marokkaner, die im Ausland leben, sind damit nach dem Tourismus die zweite Devisenquelle des Königreiches.
Dem steht der unbeschreibliche Reichtum des Königshauses gegenüber. König Mohamed VI. ist laut Forbes der siebtreichste Monarch der Welt. Er hat ein Vermögen von 2,5 Milliarden Dollar angehäuft und liegt damit weit vor dem Herrscher von Ölländern, wie Qatar oder Kuwait. Seit der Monarch den Thron übernahm, hat er sein Vermögen verfünffacht. Die Haupteinnahmequelle ist die Phosphatindustrie. Marokko kontrolliert dank der Minen in der besetzten Westsahara die Hälfte der weltweiten Vorkommen und ist die Nummer 3 auf dem Weltmarkt nach China und den USA. Die königliche Holding ONA kontrolliert neben den Minen, Banken, Versicherungen, Lebensmittel- und Bauindustrie. Alle Aktivitäten zusammen genommen erzielen die königlichen Unternehmen über 6 Prozent des Brutto Inlandproduktes.
„Die königliche Familie kauft ganze Bereiche der marokkanischen Wirtschaft auf“, erklärt der Journalist Ali Amar, Autor des Buches „Mohammed VI : Le grand malentendu“ einer Radiographie des marokkanischen Monarchen zu dessen zehnten Jahrestag auf dem Thron. „Es wird keine Entwicklung und kein Demokratisierung geben, solange der Reichtum des Landes nicht umverteilt wird“, fügt er hinzu.
Die meisten Menschen in Marokko haben den Glauben an eine baldige Veränderung ihrer Lage verloren. Über 60 Prozent der Marokkaner zwischen 16 und 29 Jahren sehen ihre Zukunft in der Emigration nach Europa oder Kanada.