© 2009 Reiner Wandler

Tindouf – Verzweifeltes Abwarten

Aus aktuellem Anlass hier eine Reportage, die 1997 in den sahrauischen Flüchtlinglagern in Tindouf entstand.

Eine Windhose treibt am Ende der langen Zeltreihen mit Staub und Papierfetzen ihren Schabernack. Eine Schar von Kindern stöbert laut grölend durch die sandigen Gassen zwischen den Zelten. Über den weissen Kuppeln des Gemeindezentrums flimmert die Luft. Die Wachhäuschen an der Einfahrt zum einzigen grossen gemauerten Gebäudekomplex liegen verlassen da. Nur wenn der Rote Halbmond die internationalen Lebensmittelhilfen ausgibt, kommt Leben ins Lager. Dann stehen Scharen von verschleierten Frauen geduldig an. Sobald die weissen LKWs entladen sind, fällt wieder alles zurück in die aufgezwungene Untätigkeit. Tote Zeit, die im schattigen Innern der Zelte überbrückt wird.

Besucher sind dabei eine willkommene Abwechslung. Dann wird Tee aufgetischt. «Immer drei. Der erste so bitter wie das Leben, der zweite so süss wie die Liebe, der dritte so sanft wie der Tod», erklärt Bachir Daf Sidi Salek die stundenlange jahrhundertealte Zeremonie. Dabei spielt der grauhaarige Greis mit seinem schweren Ring am Zeigefinger, einziges Symbol, das auf seinen sozialen Stand hinweist. Der mit einem schlichten blauen Umhang – der Darraa – bekleidete Bärtige ist Cheijk, Fürst des Wüstenstammes Sidi Abdala Musset. Zwei grosse verschrammte Blechkisten für den Hausrat und der zerschlissene Fetzen aus schwarzer Kamelwolle, der die Wasserfässer vor der Sonne schützt, ein Stück des traditionellen Jaima, in dem die Familie wohnte, bevor sie in die Flüchtlingscamps mit ihren Kunststoffzelten kam – das ist alles, was noch an das Nomadenleben erinnert.

Von vergangenen Zeiten, als Bachir Daf mit den Seinigen auf der Suche nach immer neuen Weideplätzen für die Kamelherde durch die Wüste zog, erzählt er nicht gerne. «Was nützt es, von dem zu reden, was war, von dem, was wir hatten? Ich weiss nur eines: die Marokkaner haben mir alles genommen», antwortet er statt dessen und fischt mürrisch einen vergilbten Zettel aus einer kleinen rechteckigen Blechdose, in der er seine Lesebrille aufbewahrt. In deutlicher arabischer Handschrift sind da drei Namen vermerkt, Mahmut, Mohamedu und Mulay, hinter jedem eine Jahreszahl – 1976, 1980, 1990. «Meine Söhne – alle im Kampf gegen Marokko, für die Unabhängigkeit unseres Landes gefallen», sagt Bachir Daf mit resignierter Stimme.

Die Mittagshitze kriecht langsam zu den Zeltöffnungen herein. Das Wellblechdach der aus Lehmziegeln erbauten Küche nebenan gibt unter der Hitze Geräusche von sich, als würde ein Regenschauer auf ihm niedergehen. Eine akustische Fata Morgana – ein Streich, als wolle die Natur die Erinnerungen an das so rare Nass wachhalten.

«Als ein paar wenige junge Saharauis anfingen, vom bewaffneten Befreiungskampf zu reden, wollte ich davon zuerst nichts wissen», erinnert sich Bachir Daf. Es waren die frühen siebziger Jahre. Begeistert vom algerischen Sieg über Frankreich und den Kämpfen in Lateinamerika gründeten vor allem Studenten die Frente Popular para la Liberacion de Saguia el Hamra y Rio de Oro (Polisario). Saguia el Haara und Rio de Oro nannten die Spanier die beiden Provinzen, in die sie ihrer Kolonie in Nordafrika aufgeteilt hatten. Bachir Daf setzte, wie die restlichen, meist konservativen Stammesfürsten auch, auf Gespräche zwischen dem Kolonialparlament Yema, dem sie angehörten, und der Regierung in Madrid. Eine tragische Fehlentscheidung, wie sich schnell herausstellen sollte. Zwar zogen die Kolonialherren Anfang 1976 ab, die Unabhängigkeit der Westsahara jedoch blieb aus. Am selben Tag, als der letzte spanische Legionär die Wüste Richtung Kanarische Inseln verliess, besetzten mauretanische und marokkanische Truppen das Land.

«Ich floh mit meiner gesamten Sippe nach Tifariti, nahe der mauretanisch-algerischen Grenze», erzählt Bachir Daf. Der kleine Handelsfleck bot den Saharauis nur kurze Zeit Schutz. Nur einen Monat nach Kriegsbeginn, im März 1976, bombadierte die marokkanische Luftwaffe das gesamte Gebiet mit Napalm. Wie viele in jener Nacht ihr Leben liessen, weiss keiner so genau. «Zehn Mitglieder meiner Familie fielen in die Hände der Marokkaner. Bis heute habe ich keine Nachricht von ihnen.» Bachir Daf schlürft nachdenklich am Tee. Er floh zusammen mit fast 200 000 Saharauis in die Camps, die die Frente Polisario in aller Eile auf der anderen Seite der algerischen Grenze errichtet hatte. Dort brachen unter dem Einfluss der Polisario neue Zeiten an. Die Macht der Scheichs wich der des Parlaments und der Exilregierung, der am Tag des Kriegsbeginns aus gerufenen Demokratischen Arabischen Republik Sahara (Dars). Bachir Daf ist seither «ein ganz normaler Bürger».

Erst vor fünf Jahren, als Marokko und die Polisario einen Waffenstillstand unterzeichneten, erinnerten sich die Saharauis plötzlich wieder ihrer alten Fürsten. UNO-Generalsekretär Boutros-Ghali hatte auf seinen zwei Besuchen in den Flüchtlingslagern ein Referendum über die Unabhängigkeit versprochen. Wer war geeigneter, um die Listen der Wahlberechtigten zu erstellen, als die alten Scheichs? «Ich hatte plötzlich wieder die Hoffnung auf eine friedliche Lösung», erinnert sich der Bachir Daf, der sich sofort bei der «Mission der Vereinten Nationen für ein Referendum in der Westsahara» (Minurso) meldete. Die Saharauis in den Camps tanzten die ganze Nacht auf den Strassen, ihre Landsleute in den besetzten Gebieten gaben hinter vorgehaltener Hand die neuesten Nachrichten weiter, die sie heimlich Nacht für Nacht aus dem Radiosender der Polisario erfuhren. «Doch die Erfassung der Wahlberechtigten stellte sich schnell als Farce heraus, Hassan II. versuchte, uns eine Unmenge von umgesiedelten Marokkanern unterzuschieben», beschuldigt Bachir Daf die Gegenseite. Die UNO verschob das Referendum immer wieder. Erst als Boutrus-Ghali durch den neuen UNO-Generalsekretar Kofi Annan ersetzt wurde und dieser den ehemaligen US-Aussenminister James Ba-ker zum Sondergesandten bestimmte, kam wieder Bewegung in den festgefahrenen Friedensprozess. Polisario und König Hassan II. einigten sich darauf, die Erfassung der Wahlberechtigten wiederaufzunehmen, um bis spätestens Ende nächsten Jahres die von den Wüstenbewohnern langersehnte Volksabstimmung doch noch durchzuführen.

Das Land zwischen der Ebene des Saguia el Hanra im Norden und dem Kap Blanc im Süden gleicht noch einer einzigen grossen Festung. Die Truppen von Hassan II. bauten eine 2500 Kilometer lange Mauer aus Sand und Felsbrocken, die die unwirkliche Landschaft durchzieht. Sensoren und Radar melden den 200 000 marokkanischen Soldaten jede verdächtige Bewegung. Eine Million Dollar kostet König Hassan II. jeden Tag die Verteidigung seiner Kriegsbeute – 80 Prozent der Westsahara, ein Gebiet halb so gross wie das einstige Mutterland Spanien. Die Plünderung der wichtigsten Reichtümer der Westsahara – der Phosphatabbau in Bucraa im Norden des Landes und die Fischbänke am Atlantik – soll dies wieder wettmachen. Das Landesinnere, ein langgezogener Streifen entlang der Grenze mit Algerien und Mauretanien, hält weiterhin die Frente Polisario mit ihrem 30 000 Mann starken Guerilla-Heer.

«Wir sind immer drei Monate an der Front und dann 25 Tage zu Hause in den Flüchtlingslagern», beschreibt einer von ihnen, Mohamed Morach, das Soldatenleben, während er den Tee immer wieder von einem Glas ins nächste giesst, bis sich Schaum bildet. Dann kippt er ihn zurück in die kleine Blechkanne, versetzt ihn mit einem Glas voller Zucker und schenkt ihn wieder aus. Ein Kofferradio in der Zeltecke untermalt die Szene mit seiner Geräuschkulisse. Nachrichten von Radio Freies Sahara in Hassani, dem eigenwilligen Dialekt der Wüstenbewohner, mit mehr als ein Viertel nichtarabischer Wörter, werden von Musik unterbrochen. E-Gitarre, Trommeln und Gesang. Erst nach längerem Hinhören sind feine Wechsel in der monotonen Abfolge sich endlos wiederholender Akkorde und Strophen wahrnehmbar – Melodien wie die Wüstenlandschaft. Mohameds Frau Fatimah stellt Datteln und ein Erfrischungsgetränk auf den ganz mit selbstgewobenen Grasmatten und Teppichen ausgelegten Zeltboden. «Leider nur deutscher Sirup aus den Hilfsgütern, mit Wasser versetzt», entschuldigt sie sich, bevor sie sich neben ihrem Mann niederlässt.

«In den besetzten Gebieten herrscht zwar mehr Wohlstand, aber nicht die gleiche Freiheit wie hier», und das sei das einzige, was im Leben zähle, setzt Fatimah erneut an. Wie viele saharauische Frauen ihrer Generation hat Fatimah einen Beruf erlernt, etwas, was bis heute nicht nur in Marokko undenkbar ist. Nach acht Jahren Hochschulstudium in Kuba unterrichtet sie Spanisch im lagereigenen Internat, in dem die Kin-der die Mittelstufe durchlaufen, bevor sie selbst in Algerien, Syrien, Libyen oder Kuba Abitur und ein Hochschulstudium absolvieren werden.

An ihre Heimatstadt El Aaiun erinnert sich Fatimah kaum noch zurück. Als die Marokkaner 1976 die ehemalige Hauptstadt der spanischen Kolonie unweit der Atlantikküste besetzten, war sie sechs Jahre alt. Sie floh mit einem Onkel auf die Kanarischen Inseln und von dort in die Camps. Ihr Vater blieb bei der schwerkranken Grossmutter zurück. Erst der UNO-Friedensplan machte ein überraschendes Wiedersehen möglich. Auch er, ein alter Stammesfürst, kam mit den Minurso-Truppen in die Camps. «Wir hätten uns gar nicht wiedererkannt, wenn uns nicht eine alte Nachbarin, die uns beide noch von vor dem Krieg kannte, vorgestellt hätte», erzählt Fatimah sichtlich gerührt. Freudentränen über das unerwartete Zusammentreffen mischten sich mit der Hoffnung, dass jetzt alles besser würde. «Danach setzte die UNO die Volkszählung aus», erinnert sich Fatimah und schaut betreten zu Boden. Damals beschlich sie wieder dieses nur allzu vertraute ungute Gefühl, wenn ihr Mann Mohamed nach dem viel zu kurzen Heimaturlaub an die Front zurückkehrte und die Darraa gegen seine olivgrüne Uniform eintauschte. Wieder begannen die langen Tage und Nächte des bangen Wartens.

«Trotz Scheitern der UNO kam es zu keiner Wiederaufnahme der Kampfhandlungen», sagt Ahmed Fal, Kommandant der zweiten von sieben Militärregionen der saharauischen Verteidigungslinien. Kein Abzeichen auf der Schulter, kein Orden auf der Brust verrät seinen Rang. Der vierzigjährige Mann, der jede Antwort mit nachdenklichem Blick genau abwägt, gehört zur Gründergeneration der Polisario. 1975 brach er wie viele sein Studium ab und verschrieb sich der Sache der nationalen Befreiung. Von einer kleinen Backsteinfestung auf einem Hügel über den Ruinen von Tifariti – zerstört in jener Nacht, als das Napalm die Luft zum Brennen brachte – befehligt er zwei Panzer-, ein Infanterie- und ein Artilleriebataillon. Ahmed Fals Abschnitt ist für beide Seiten von grosser Bedeutung. Hier schützen gleich zwei Mauerringe das marokkanisch besetzte Territorium. «Dahinter liegen die Phosphatminen von Bucraa», erklärt Kommandant Ahmed Fal und zeigt Richtung Westen. Dort, unweit der feindlichen Stellungen, haben sich seine Krieger die steinige Landschaft zunutze gemacht. Unter jedem Fels kann sich ein Unterstand befinden, ein Panzer im Versteck auf den Einsatzbefehl warten. Dem Blick des Ortsunkundigen bleiben die natürlichen Unterschlüpfe verborgen.

«Die Minurso hat, als der Friedensprozess letztes Jahr ins Stocken geriet, 30 Prozent ihrer Blauhelme abgezogen und einen von sechs Stützpunkten ganz geschlossen», beschreibt Ahmed Fal die Lage. Die Marokkaner machten sich die zurückgegangene Zahl der Kontrollfahrten zunutze und würden ständig ihre Stellungen an der Mauer ausbauen. «Ein klarer Verstoss gegen den Waffenstillstand», beschwert sich der saharauische Kommandant. Was geschieht, wenn die UNO einmal mehr scheitert und aus der Volksabstimmung wieder nichts wird, darüber möchte Ahmed Fal lieber keine Spekulationen anstellen. Doch an einem lässt er keine Zweifel aufkommen: «Meine Männer wollen endlich Taten sehen, sie sind die Hinhaltetaktik Marokkos leid.»

Auch in den Flüchtlingslagern macht sich Ungeduld breit. «Zwanzig Jahre unter diesen Bedingungen sind verdammt lang», gibt der alte Cheijk Bachir Daf Sidi Salek zu bedenken, «Boutros Ghali war die grösste Enttäuschung meines Lebens, hat mich schwer enttäuscht, ich hoffe, dass Kofi Annan mehr Erfolg hat.» Plötzlich dringt ein erster zaghafter kühler Windhauch ins Zelt. Die Sonne eilt dem Horizont entgegen. «Ich würde auf meine alten Tage noch einmal gerne mit meiner Familie durch die Wüste bis an den Atlantik reisen.» Die Augen von Bachir Daf Sidi Salek glänzen beim Gedanken an das Meer, an dessen Ufern, in El Aaiun, der Nomade früher so oft kleinere und grössere Tauschgeschäfte abwickelte. Plötzlich trinkt der alte Cheijk seinen Tee aus, steht wortlos auf und geht vor das Zelt. Er kniet sich langsam in den immer noch heissen Wüstensand. Sein sehniger Körper hebt sich gegen den vom zarten Hellrot in tiefes Dunkelblau übergehenden Himmel ab. Die Hände vor der Brust verschränkt, den Blick gegen Mekka gerichtet. Es ist die Stunde des Abendgebets.

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