„Die entsprechende Gewalt, um den Staat zu unterwerfen, gab es nicht“, erklärte Marina Puig, Anwältin des Vorsitzenden des katalanischen Kulturvereins Òmnium, Jordi Cuixart, am Mittwoch zum Ende des Prozesses gegen zwölf mutmaßliche Verantwortliche des katalanischen Unabhängigkeitsreferendums am 1. Oktober 2017 zu Ende. „Der Appell an die Wahrung der Einheit Spaniens kann nicht über den Grundrechten stehen“, fügte sie hinzu. Und verwies auf Demonstrations- und Meinungsfreiheit.
Wie Puig plädierten auch die restlichen Verteidiger und alle Angeklagten in ihrem Schlusswort auf Freispruch sowie die sofortige Aussetzung der seit nun mehr ein ein halb Jahre dauernden Untersuchungshaft gegen neun der zwölf, unter ihnen neben Cuixart der ehemalige katalanische Vizeregierungschef Oriol Junqueras, die ehemalige Präsidentin des katalanischen Parlament, Carme Forcadell sowie der ehemalige Vorsitzende der Katalanischen Nationalversammlung (ANC) Jordi Sànchez.
Den Zwölf wird je nach ihrer Rolle bei der Vorbereitung des Referendums „Ungehorsam“, „Aufstand“ und bis hin zur „Rebellion“ vorgeworfen. Ausserdem sollen sie öffentliche Gelder veruntreut haben. Einige der für die Volksabstimmung Verantwortlichen standen nicht vor Gericht. Sie waren rechtzeitig ins Ausland gegangen, unter ihnen der ehemalige katalanische Regierungschef Carles Puigdemont. Das Urteil wird frühestens für Ende September erwartet.
Die Hauptverhandlung im wohl wichtigsten Prozess der jüngeren spanischen Geschichte hat vier Monate gedauert. Die fünf Richter vernahmen 422 Zeugen, luden fünf Sachverständige und sichteten tausende Dokumente und Videos. Obwohl die Beweisaufnahme zu keinem Zeitpunkt erbrachte, dass die Unabhängigkeitsbewegung bei der Vorbereitung und Durchführung des Referendums gewalttätig vorging, sieht die Staatsanwaltschaft in dem, was zwischen 2015 und 2017 in Katalonien geschah, „einen Putsch“. Es sei den Angeklagten darum gegangen, „die spanische Verfassung von 1978 zu liquidieren“. Regierung, Parlament und Zivilgesellschaft in Katalonien seien die „drei Pfeiler“ dieses Vorgehens gewesen.
Damit hätten sich die Hauptangeklagten Junqueras, Forcadell sowie Cuixart und Sànchez der „Rebellion“ schuldig gemacht. Für Junqueras fordern die Staatsanwaltschaft 25 Jahre Haft, für Forcadell, Cuixart und Sànchez je 17 Jahre. Ausserdem verlangt die Staatsanwaltschaft, dass sie mindestens die Hälfte der Strafe verbüsst haben müssen, bevor sie Antrag auf Hafterleichterung stellen können.
Die rechtsextreme Vox hat eine öffentliche Nebenklage – eine in Spanien übliche Rechtsfigur, die der Zivilgesellschaft eine Stimme bei wichtigen Verfahren geben soll – eingebracht. Sie geht noch einen Schritt weiter und wirft den Angeklagten zusätzlich vor, Mitglieder in einer kriminellen Vereinigung gewesen zu sein. Anwalt Javier Ortega Smith, der als VOX-Abgeordneter im spanischen Parlament und im Stadtrat von Madrid sitzt, fordert bis zu 74 Jahre Haft sowie die vollständige Verbüßung der Strafe in Haftanstalten außerhalb Kataloniens.
Nur die Rechtsanwälte des Staates, deren Mandant ganz direkt die spanische Regierung ist, können keine Gewalt ausmachen. Sie sei „nicht Teil der Pläne der Angeklagten gewesen“. Dennoch sehen sie in der Abhaltung des Referendums „Aufstand“ und verlangen bis zu zwölf Jahre Haft.
Die Verteidigung sieht das freilich anders: „Die Menschen gingen nicht auf die Straße, um den Staat zu zerstören, sondern um zu demonstrieren und abzustimmen“, erklärt der Anwalt Junqueras‘, Andreu Van den Eynde. „Warum löste unsere Frage, ob Waffen im Einsatz gewesen seien, Grinsen aus, wenn wir hier von Rebellion sprechen?“, erinnert er an einen der skurrilsten Momente bei der Zeugenvernehmung. Die Verteidiger bereiten den Gang vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vor.