María Carmen Gayoso steht irgend etwas zwischen Trauer und Erleichterung ins Gesicht geschrieben. Sie deutet auf das Grab ihrer Familie auf dem Friedhof von Guadalajara, einer Stadt, 60 Kilometer östlich der spanischen Hauptstadt Madrid. „Endlich konnte ich meinen Urgroßvater und meinen Großonkel beisetzen“, sagt die Herausgeberin eines Werbeblättchens in Valencia.
Während die 58-Jährige erzählt, wechseln sich Lächeln und unterdrücktes Schluchzen ab. Urgroßvater Jesus Sánchez Cortés und Großonkel Contancio Sánchez Valero wurden am 25.10 1939 von den im Bürgerkrieg siegreichen Faschisten unter General Francisco Franco abgeführt, standrechtlich erschossen und in einem Massengrab verscharrt worden. Ihr Verbrechen: Beide waren Ortsbekannte „Rote“. Der Urgroßvater war Sozialist und Gemeinderichter in seinem Heimatort Armuña de Tajuña, sein Sohn Gewerkschafter und Kommunist.
Die Säuberungswelle war unerbittlich. Von 250 Einwohner erlitten 20 das Schicksal der beiden Sánchez. Darunter auch der Großvater von María Carmen Gayoso. „Er liegt hier im Massengrab Nummer 9“, weiß die Enkelin. Doch damit nicht genug: Ein Tante versteckte sich die ganze Diktatur über in Zaragoza, ein Onkel wurde seiner Heimat verwiesen und fristete sein Leben in Barcelona. „Beide starben, ohne je zu wissen, wo die Leichname ihres Vaters und Bruders abgeblieben waren. Jetzt liegen sie alle zusammen im Familiengrab“, sagt Gayoso sichtlich erleichtert.
Die Beisetzung, die eine seit 78 Jahren offene Wunde schließt, ist das Ende eines langen Pfingstsamstagmorgens voller Gefühle. Alles begann im festlichen Saal der Kreisverwaltung von Guadalajara mit einer Feierstunde. Die beiden Kisten mit den Überresten von Jesús und Constancio Sánchez standen zusammen mit 20 weiteren feinsäuberlich aufgereiht am Rande der Bühne. Auf jeder ein dunkel-lillanes Tuch, eine weiße Nelke, ein Foto; auf einem Tisch kleine Holzschachteln mit den Namen der Opfern und persönlichen Gegenständen, die bei den Resten gefunden worden waren. Geigenmusik in Moll, Gedichte, Ansprachen.
Die Vereinigung zur Wiedererlangung der historischen Erinnerung (ARMH) übergab die sterblichen Überreste der 22 Opfern des Franquismus. Sie plus drei weitere identifizierte Opfer sowie 25 deren Identität noch nicht endgültig feststeht, stammen aus dem Massengrab Nummer 1 und 2 auf dem Friedhof in Guadalajara. Die Archäologen der ARMH hatte sie vor einem Jahr geöffnet.
Dass dies möglich war, ist nicht etwa der Verdienst der spanischen Justiz. Diese weigert sich bis heute die Familien der über 100.000 verschwundenen Opfer der Repression im Bürgerkrieg und den ersten Jahren der Diktatur zu unterstützen. Als Begründung dient die 1977, zwei Jahre nach dem Tod von Diktator Franco, erlassene Amnestie für alle faschistischen Verbrechen. Ascensión Mendieta, Tochter des Gewerkschafter Timoteo Mendieta bat deshalb die argentinische Justiz zu Hilfe. Im Alter von 88 Jahren flog sie über den Atlantik und fand bei Richterin María Servini Gehör. Das argentinische Gesetz erlaubt weltweit Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verfolgen, wenn die Opfer zu Hause keine Gerechtigkeit finden.
Die Familie Mendieta erwirkte ein internationales Hilfegesuch für die Exhumierung. Dem Gericht in Guadalajara blieb nichts anderes übrig, als die Grabungen zu genehmigen. Für die Kosten kam nicht etwa der spanische Staat auf, sondern die ARMH mit Spenden einer norwegischen Gewerkschaft. Die konservative Regierung unter Mariano Rajoy hat bereits im achten Jahr in Folge alle Zuwendungen an Organisationen, die Opfer des Franquismus suchen gestrichen. Gleichzeitig gibt es staatliche Hilfen für die Angehörigen von Opfer der mittlerweile aufgelösten baskischen Seperatistenorganisation ETA. „Es wird Zeit, dass in diesem Land alle Opfer gleich behandelt werden“, erklärt der Vorsitzende und Gründer der ARMH, Emilio Silva im vollbesetzten Festsaal unter Applaus.
Neben Timoteo Mendieta förderte die Ausgrabung 49 weitere Opfer zu Tage. Die Übergabe der Reste an die Familien in Guadalajara war die größte ihrer Art, seit die ARMH im Jahr 2000 anfing nach Opfern in Massengräbern und Straßengräben zu suchen. „Ich bin dieser Frau sehr zu Dank verpflichtet. Ohne ihre Mut und Beharrlichkeit, wären wir heute nicht hier“, sagt Gayoso. Sie hofft jetzt, dass irgendwann auch ein Richter die Exhumierung der Opfer in Grab 9 veranlasst, und dass das dann auch jemand die Ausgrabungen finanziert. „Denn die archäologischen Arbeiten und die DNA-Tests sind nicht billig“, sagt sie. Da ist es wieder das Gefühl, als Opfer der Faschisten vergessen und verlassen zu sein.