Der Stierkampf kommt in der deutschen Literatur praktisch nicht vor. Einer der wenigen Autoren, der über das blutige Spektakel mit dem gefährlichen Tier geschrieben hat, ist Kurt Tucholsky. Das Urteil nach seinem ersten Stierkampf-Nachmittag irgendwann im Sommer 1925 war mehr als zwiespältig: „Theater“ nennt der Schriftsteller die Arena und „Mordturm“ zugleich. Er berichtet von „graziösesten und elegantesten Bewegungen“, um sich kurz darauf zu fragen, ob die „Mantelleute, die mit dem Stier einen Fandago tanzen“, „grausame Leute“ sind. Und die Schlußfolgerung kündet von innerer Zerrissenheit: „Eine Barbarei. Aber wenn sie morgen wieder ist: ich gehe wieder hin.“
Mit Karl Brauns Buch „Der Tod des Stieres. Fest und Ritual in Spanien“ liegt jetzt erstmals auf Deutsch eine detaillierte Untersuchung über das Spiel mit dem Stier vor, das bei Tucholsky Ekel und Faszination zugleich auslöste. Das Interesse Brauns, Doktor der Philologie, studierter Ethnologe und vergleichender Kulturwissenschaftlers, am „Kultursymptom“ Stierkampf und der „Begeisterung der Spanier dafür“ geht auf einen Nachmittag auf jenem berühmten Fest, das einst auch Ernest Hemingway in seinen Bann zogen, die San Fermines in Pamplona. Unzähligen Untersuchungen in spanischen Dörfern und Städten, in denen bis heute eine Fiesta (Fest) ohne toros (Stiere) unvorstellbar ist, bilden die Grundlage von Brauns Werk. Dabei gibt sich er sich nicht mit der reinen Beschreibung zufrieden, sondern sucht die Wurzeln dieses „Interesses für die interaktiven, also kulturellen Momente zwischen Mensch und Stier“. Braun versucht beim Leser Verständnis zu erwecken, für die Kulturäußerung des anderen.
Stierkampf würde außerhalb Spaniens oft falsch verstanden, ein Irrtum, der bereits in der unzureichenden deutschen oder englischen Namensgebung liegt. Auf der iberischen Halbinsel spricht niemand von „Stierkampf“ oder „bullfighting“, sondern von der „Corrida“, dem Lauf. „Obwohl die Corrida mit den Arenen voller Massen von Menschen den Auftakt und Modell für die modernen Sportstadien darstellt, hat sie mit Sport nichts zu tun. (..) Die Corrida ist nicht ergebniszentriert; es gibt im Sinne des Sports keine Sieger und Verlierer.“
In akribische Kleinstarbeit sucht Braun in populären Liedern und Ephen nach den Ursprüngen der Corrida. Bis hin zum vorchristlichen Fruchtbarkeitskult für die Göttin Artemis führt ihn diese Reise durch die kulturelle Geschichte der Menschheit. Der Göttin zu Ehren wurden in Kleinasien Stiere geopfert – eine Gabe an den ewig wiederkehrenden Zyklus des Lebens. Denn die Potenz des Stieres ging beim Ritual nicht etwa auf den Mann über, der das Tier tötete, sondern auf Göttin Artemis, deren Statue mit den Hodensäcken der Opfertiere geschmückt wurde. Etwas das – so die schlüssige Herleitung Brauns – in Spanien in Form des Spieles der Bevölkerung mit dem Stier auf den Fiestas weiterlebt. Die Stadtpatronin, eine Statue der Jungfrau Maria, nimmt dabei den Platz von Göttin Artemis ein. Im übertragenen Sinne verkörpert „der Stier beim Eintritt in die Ortschaft das Ungebändigte, Wilde – die Natur vor dem Sündenfall der Zivilisation. Dieses Wilde samt seiner Gewalt wird im Gewaltakt, der Demütigung und Tötung, überwunden.“ Die Einbruch des Stieres hat „entzivilisierende“ Wirkung, löst die „die Ordnung im Tumult der Fiesta“ auf. Der Sieg über den Stier, und das vielerorts bis heute gepflegte gemeinsame Verzehren des Fleisches, hat „zivilisierende“ Wirkung, „eine Umkehrung, die Reinigung und Erneuerung beinhaltet“. Die vor 200 Jahren entstandene moderne Corrida professioneller Toreros in der Arena lenkt diese tumultartige Fiesta in geordnete Bahne.
Für Braun ist die Corrida damit Zeugnis „europäischer Kulturwerdung“. Er will sie nicht nur erhalten, sondern gar geschützt wissen. Denn es sei zu überlegen, ob diese „menschliche Handlungsweisen“ – die unterschiedlichen Formen des Spieles mit dem Stier – „in die zu schützende Reihe der Objekte aufgenommen werden könnten. (..) Haben kulturgeprägte Interaktions- und Sozialformen, die noch intakt sind, etwa weniger Rechte als von Kultur geschaffene materielle Objektivationen?“
Auch wenn der Leser „den oft komplizierten und verschlungenen Weg hin zu der einfachen und nicht neuen Antwort – die Corrida ist Fiesta“ – wie ihn der Autor beschreitet – nicht nachvollziehen mag, das Buch von Karl Braun sollte zur Grundausstattung eines jeden gehören, der sich Spanienkenner nennt. Denn ob Befürworter oder Gegner der Corrida: Spaniens Kultur, egal ob sie Museen und Bibliotheken füllt, oder in Form von Umgangssprache, Gestik und Mimik auf der Straße lebt – vieles auf der iberischen Halbinsel muß einem ohne eine gehörige Portion an Grundkenntnissen über die Stiere und ihre Tradition spanisch vorkommen.
Karl Braun, Der Tod des Stiers. Fest und Ritual in Spanien, C.H.Beck, München 1997, 243 Seiten, ist leider nur noch gebraucht zu erhalten. Sein neues Buch: „¡Toro! Spanien und der Stier“ gibt es bei Wagenbach.