Boualem Sansal (65) ist einer der bekannteste, zeitgenössische Schriftsteller aus Algerien. Seine kritischen Romane brachten ihm zu Hause den Ruf des Nestbeschmutzers ein, während er in Europa mehrfach ausgezeichnet wurde. 2011 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Derzeit arbeitet Sansal, der weiterhin in seiner Heimat lebt, an einem Roman, der sich mit einer ähnlichen Thematik wie Michel Houellebecq in seinem umstrittenen Buch „Unterwerfung“ beschäftigt. Auch Sansal um die Zukunft der westlichen Länder. Er kommt aber „zu einem ganz anderen Ergebnis“. Orwells 1984 habe ihn inspiriert. Mehr gibt er nicht preis.
Was ist das Attentat auf Charlie Hebdo? Ein isolierter Gewaltakt, der erste einer Serie von Anschlägen oder gar der Beginn eines langen Krieges radikaler Islamisten gegen den Westen und seine Werte?
Es handelt sich weder um eine Einzelaktion noch um ein völlig durchorganisiertes Verbrechen. Ich glaube, dass wir vor einem längeren Prozess stehen. Der Islamismus ist mittlerweile überall auf der Welt verankert. Er entwickelt sich mit seinen Höhen und Tiefen. Mal ist er ruhiger, mal ist er sehr virulent. Was derzeit in Europa passiert, lässt sich mit dem vergleichen, was wir in den 1970er, 1980er und 1990er Jahren in Algerien erlebten. Es ist ein lange, stetige Entwicklung.
Es gibt also einen Zusammenhang zwischen der Terrorwelle der 1990er Jahre in Algerien und dem was heute in Frankreich passiert?
Egal ob es um Politik, Religion oder Kultur geht, alles was in Frankreich geschieht, hat sofort Auswirkungen auf Algerien und umgekehrt. Die Algerier stellen eine große Bevölkerungsgruppe in Frankreich. Es ist wie ein Kommen und Gehen zwischen beiden Ländern. Es bestehen unzählige Verbindungen und Kontakte.
Das heisst die Anschläge von Paris sind gewissermassen das Erbe des Kolonialismus oder Neokolonialismus?
Nein, die Erinnerung an den Konflikt zwischen Frankreich und Algerien spielt nur eine unterordnete Rolle. Auch wenn die Ressentiments sicher dazu beitragen, dass die meisten großen Anschläge und kleinere Gewalttaten in Frankreich von Attentätern mit algerische Wurzeln ausgeführt werden. Das war auch jetzt bei Charlie Hebdo wieder so. Aber wenn wir heute von den Attentäter und den Islamisten reden, dann geht es um die vierte Generation. Die radikalen Islamisten haben ihren globalen Zusammenhang. Sie tauschen sich über Internet aus. Die Nationalität spielt dabei eine sehr untergeordnete Rolle. Wir stehen vor einer regelrechten islamistischen Internationalen. Alle Informationen, die Propaganda, alles zirkuliert sehr schnell.
Wie erklären Sie sich die Gewalt dann. Ist sie das Ergebnis von sozialen Konflikten? Die Folge mangelnder Integration?
Nein, nein. Die sozialen Probleme spielen auch nur eine Randrolle. Es gibt ein politisches Projekt im Islam, mit dem Namen Ennahda, dem Wiedererwachen. Der Islam ist nach jahrhundertelangem Schlaf wieder aktiv. Es gibt zwei Strömungen. Die einen wollen einen illustrierten, modernen Islam. Sie wollen aus dem traditionellen Islam ausbrechen. Die andere Strömung hat eben diesen traditionellen Islam und das Projekt der Eroberung erneut aufgenommen, so wie einst der Prophet immer neue Länder, immer neue Seelen eroberte. Es geht darum, die ganze Welt zu islamisieren.
Sie reden vom Islamismus und nicht vom Islam als solches?
Nein, ich rede sehr wohl vom Islam als solchen. Nach mehreren Jahrhunderten der Ruhe und des Rückgangs ist der Islam wieder aktiv. Es geht darum, den Islam wieder zur großen Religion zu machen, zur großen Zivilisation, der er einst war.
Aber wenn wir von Gewalt reden, vom Terror, dann geht es doch um den Islamismus und nicht um den Islam?
Ein Moment. Es gibt diese zwei Projekte, das der Modernisierung und das der Tradition. Diejenigen, die zur Tradition zurück wollen sind Fundamentalisten, meist Salafisten. Der Islam, wie sie ihn verstehen, ist der des Propheten, der die Religion mit dem Schwert und nicht mit dem Wort verbreitete. Es geht ihnen darum die Welt zu erobern, die Menschen zu islamisieren. Das hat zum radikalen Islamismus geführt.
Welche der zwei Strömungen wird sich durchsetzen?
Langfristig die Aufklärer, die Modernisierer. Aber wer auf die Intelligenz setzt, braucht viel Zeit. Es geht darum viele, viele Generationen zu erziehen. Bis sich der moderne Islam durchsetzt geht sicher ein weiteres Jahrhundert ins Land. Bis dahin, werden die Islamisten das Sagen haben. Sie sind in Marokko, in Libyen, Iran, Irak, Syrien, Afghanistan … an der Macht. Und selbst dort, wo sie nicht an der Macht sind, haben sie die Gesellschaft fest im Griff, wie zum Beispiel in Tunesien oder Algerien. Und jetzt habe sie den Westen zum Ziel gemacht. In Ländern wie Frankreich, Deutschland, in Belgien, in Großbritannien – sie gewinnen überall an Einfluss.
Wie gewinnen sie Anhänger unter jungen Menschen, die im Westen aufgewachsen sind? Wie sehen die sozialen Mechanismen dieser Rekrutierung aus?
Es gibt keinen sozialen Mechanismus. Es ist ein Irrtum, zu glauben, dass die Islamisten alles arme Schlucker sind. Bei uns hatte ein Großteil der Islamisten studiert. Es handelt sich um Beamte, Ingenieure, Ärzte, Naturwissenschaftler … Fast die gesamte Führung der Islamischen Heissfront (FIS) bestand aus Wissenschaftler, Ärzten, Medizinern oder Juristen. Viele von ihnen haben in Frankreich oder den USA studiert. Es handelt sich um eine Elite.
Das gilt aber nicht, wenn wir uns diejenigen anschauen, die aus westlichen Ländern in den Krieg in Syrien oder dem Irak ziehen, um sich dort dem Islamischen Staat anschließen.
Natürlich gibt es auch die einfachen Soldaten. Die machen dies oft nicht wegen der Religion, sondern weil der Islamische Staat sie gut bezahlt. Und es geht ums Abenteuer. Um Überfälle, Raubzüge, Vergewaltigungen. Das sind Kranke.
Ist das nicht zu einfach. Gibt es nicht so etwas wie den Mythos des Dschihaddisten, so wie einst unter linken Jugendlichen der Guerillero à la Che Guevara?
Natürlich gibt es auch diejenige, die fest an eine islamische Revolution glauben und davon begeistert sind. Sie haben ihre eigene Welt, mit eigener Literatur, Poesie, Filmen. Aber ein Großteil sind einfache, elende Gestalten. Ex-Gefangene, Menschen, die Drogenprobleme haben, die aus einem völlig zerrütteten Milieu kommen.
Also doch diejenigen, die nicht integriert werden können?
Wenn ich von elenden Gestalten rede, meine ich damit nicht automatisch die Vororte, die Hochburgen der Immigration. Es gibt unter ihnen Franzosen, die zum Islam konvertiert sind. Leute, die einen guten Posten als Beamter oder gar als Polizeibeamter hatten, oder in der Armee gedient haben. Sie haben das elenden, verarmten Kopf aber nicht unbedingt ein elendes Dasein.
Dann muss es doch etwas geben, was diese Menschen anzieht. Wenn es keine soziale Frage ist dann gibt es vielleicht so etwas wie eine psychologischen Mechanismus?
Das ist ein großes Rätsel. Als der Islamismus in Algerien Fuss fasste, hat niemand so richtig verstanden, was da vor sich ging. Die Erklärung liegt in der modernen Welt an sich. Es gibt nichts mehr von dem man Träumen kann. Alles reduziert sich auf eine gute Arbeit, eine Wohnung, ein Auto. Es passiert nichts, was begeistert könnte. Vielen Menschen fehlt etwas. Vor allem junge Menschen brauchen Träume, wollen das etwas passiert. Das finden sie nirgends, absolut nirgends.
Der Islamismus, um ein leeres Leben zu füllen?
Die Religion, der Islam bietet tatsächlich so etwas wie einen Sinn in all dem. Träume, Freundschaft, Abenteuer. In der Moschee ist vom Leben die Rede, von Gott, vom Paradies, von den heldenhaften Schlachten des Propheten. Es geht um die große, arabische Zivilisation, mit ihrer glorreichen Vergangenheit, den vielen großen Erfindungen. Das begeistert. Der radikale Islamismus ist damit vielmehr die Folge einer moralischen Krise als einer sozialen Krise. In Algerien waren nicht die jungen Arbeitslosen. In Algerien zog es vielmehr Intellektuelle und gebildete Menschen in die Moschee. Produzieren, konsumieren, produzieren …, vielen ist das nicht genug. Die Religion gibt das scheinbar eine Antwort.
Was kann der Westen tun, um den modernen Islam zu unterstützen und den traditionellen Islam und damit den Islamismus zu bekämpfen?
Man kann den traditionellen Islam nicht bekämpfen. Es handelt sich um Ideen. Wir bekämpfen ja auch nicht die traditionellen, fundamentalistischen Christen. Sie haben ein Recht darauf ihre Religion zu leben. Es geht vielmehr darum, die Auswüchse zu bekämpfen.
Und wie bekämpfen wir diese Auswüchse, die Gewalt, den Terrorismus?
Indem wir Ideen, Prinzipien zu verteidigen. Und genau das ist das Problem. Europa hat keine Prinzipien, keine Ideen mehr. Es stellt sich die Frage, für was und für wenn kämpfen? Für den Profit der Banken? Wen verteidigen wir? Die richtigen Franzosen oder alle, egal welche Abstammung und welche Glaubensrichtungen sie haben? Europa hat nach und nach alle Ideen des großen, aufgeklärten Europa vergessen. Das Europa der Zivilisation wurde nach und nach aufgegeben. Europa ist immer weniger demokratisch. Europa unterstützt Diktaturen nur um Waffen oder Atotechnik zu verkaufen. Alles im Dienste des Kommerzes. Ohne Ideen, ohne Philosophie, ohne Prinzipien, ist es unmöglich zu kämpfen und zu gewinnen. Denn die Gegner haben Prinzipien. Sie haben Ideen und sie haben die Mut, all das zu verteidigen. Das ist das Problem. Es muss darum gehen, in Europa wieder zu den Prinzipien wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zurückzufinden. Europa muss nach vorn schauen und so die Zukunft, die Jugend, gewinnen.