Wenn Ana María Enrique ihren Sohn Gabriel von der Schule abholt, wird sie wehmütig. „Die Behörden wollen die Schule schließen“, sagt sie. Ein sogenannter „Plan zur Restrukturierung der Bildung“ sieht in Madrid und Region die Schließung von 12 Schulen vor. Die Grundschule Vasco Núñez de Balboa in Fuencarral ist eine davon. Die konservative Regionalregierung begründet dies mit dem Sparzwang in der Krise und der Notwendigkeit Ressourcen gezielter einzusetzen. „4.000 Euro sparen sie damit ein“, widerspricht Enrique, Mitglied im Vorstand des Elternvereins der Schule, die im Jahr 1929 ihre Tore öffnete. Das ist die jährliche Zuwendung für Betriebskosten.
„Zigeunerschule“ nennen viele hier in Fuencarral im Norden Madrids die „Vasco“ abschätzig. 70 Prozent der 75 Schüler gehören dieser Ethnie an. Der Rest sind andere Spanier und Immigranten. „Was problematisch klingt, ist es nicht“, beteuert Enrique immer wieder. Die Schule integriere seit Jahrzehnten Kinder unterschiedlicher Herkunft und hat sich damit die Anerkennung vieler Lehrer und Eltern in Madrid verdient.
Enrique ist „normale“ Spanierin. „Ich habe die Schule für meinen Sohn gewählt, weil ich ihn auf eine öffentliche Einrichtung schicken wollte und nicht auf eine Privatschule.“ Falls die Schließungspläne zum Schuljahresende tatsächlich umgesetzt werden, gibt es im Stadtteil keine öffentliche Schule mehr. Die Privatschule direkt neben der Vasco Núñez de Balboa ist dann die einzige Einrichtung hier. „Es ist die Rede davon, dass sie ausgebaut werden soll, während sie uns hier erzählen, im Stadtteil gebe es nicht genug Kinder, um unsere Schule zu erhalten“, beschwert sich Enrique.
Die meisten Eltern aus der Vasco Nuñez de Balboa könnten, selbst wenn sie wollten, ihre Kinder nicht auf die Privatschule im Stadtteil bringen. Denn Privatschulen können sich anders als die öffentlichen Einrichtungen ihre Schüler aussuchen. Für unbeliebte Minderheiten ist da kein Platz, und das obwohl die meisten Privatschulen zu 100 Prozent staatlich subventioniert werden. Offiziell sind diese Art Privatschulen kostenlos für die Schüler, doch bitten sie um „freiwillige Zuwendungen“ und ausserschulische Aktivitäten müssen ebenso wie die Schuluniform bezahlt werden. „Viele Eltern haben ganz einfach das Geld dafür nicht“, sagt Enrique.
So bleibt für ihren Gabriel und die anderen Kinder vom Vasco Nuñez de Balboa nur der Weg zur zwei Kilometer entfernten öffentliche Schule im Nachbarstadtteil. „Schulbus gibt es keinen. Das ist innerhalb der Stadt nicht vorgesehen“, beschwert sie sich. Sie befürchtet, dass dadurch die Fehlzeiten von Kindern aus sozial schwache Familien zunehmen. „Wer arbeitslos ist oder von 400 Euro Sozialhilfe für Minderheiten lebt, kann nicht für die Fahrkosten aufkommen“, sagt Enrique.
„Die öffentlichen Schulen verkommen immer mehr zu einer Art Ghetto für sozial Schwache“, sagt Elena Santiago, von der Lehrergewerkschaft im größten Verband Spaniens, CCOO. „Der Effekt dieser Politik ist klar: Der Ruf der öffentlichen Schulen wird immer schlechter, wer es sich leisten kann, bevorzugt die Privatschulen.“ Santiago betreut für die Gewerkschaft 50 Schulen in Madrid. Seit November, als erstmals die Rede davon war, die Vasco Nuñez de Balboa zu schließen, ist sie mindestens einmal die Woche hier draußen. „Der Plan zu Schließung von Schulen ist ein weiterer Angriff auf das öffentliche Schulsystem zugunsten der Privatschulen“, glaubt Santiago. Denn alle Schulen, die geschlossen werden sollen, sind öffentliche Einrichtungen.
Die Gewerkschaft CCOO wirft der Regionalregierung vor, Madrid zu einem „Labor für die konservative Revolution im Bildungswesen“ gemacht zu haben. „Die regionale Politik hat zu deutlichen Rückschritten in der Qualität der Bildung und in der Chancengleichheit geführt“, heißt es in einer Gewerkschaftsstudie, die das Schulsystem in Madrid und Region untersucht. Seit 2009 ging der Bildungshaushalt in der Hauptstadtregion um 13 Prozent zurück. Madrid liegt mit 2,2 Prozent des BIP für Bildung am unteren Ende der spanischen Statistik. Im Landesschnitt sind es 4,5 Prozent. In einigen Regionen, wie dem Baskenland gar über 7 Prozent.
Die Kürzungen gehen immer zu Lasten des öffentlichen Schulsystems. Während zunehmend öffentliche Schulen geschlossen werden und im öffentlichen Schulwesen in den letzten drei Jahren 4.200 Lehrerstellen – acht Prozent der Belegschaft – gestrichen wurden, werden für private Anbieter öffentliche Grundstücke kostenlos zur Verfügung gestellt. Offiziell wird dies mit der „Wahlfreiheit des Bildungsangebots für die Eltern“ begründet. Doch in vielen Stadtteilen, die in den Jahren des Baubooms entstanden sind, gibt es überhaupt keine öffentliche Schule mehr.
Fast die Hälfte der Schulen in der Region sind mittlerweile in privater Hand. Spanienweit ist es nur jede vierte. 90 Prozent der Privatschulen in Madrid gehören ultrakatholischen Verbänden und Sekten, wie dem Opus Dei. Nicht nur dass die meisten dieser Schulen zu 100 Prozent vom Staat subventioniert werden, auch die Eltern erhalten indirekt Zuwendungen. Ausgaben für Schuluniformen oder für ausserschulische Aktivitäten können seit zwei Jahren bei einem Jahreseinkommen von bis zu 120.000 Euro von den Steuern abgesetzt werden. 90 Millionen Euro entgehen der Regionalregierung dadurch. Dies entspricht in etwa dem, was durch Stellenstreichungen an den öffentlichen Schulen eingespart wurde.
Gleichzeitig kürzte die Regionalregierung im öffentlichen Schulwesen Zuschüsse für Bücher und spart bei der Schulspeisung für bedürftige Familien. 4,80 Euro kostet das Mittagessen an den Ganztagsschulen. Wer das nicht bezahlen kann, darf – so ein Plan der Regionalregierung, den die meisten Direktoren nicht umsetzten – sein Essen in einem Tupper mitbringen, muss aber für die Nutzung des Speiseraums bezahlen. „Für viele Kinder aus sozial schwachen Familien ist das Mittagessen an der Schule die einzige ordentliche Malzeit“, sagt Gewerkschafterin Santiago und berichtet von Schulen, wo Lehrer und Eltern zusammenlegen, um die Streichung der Zuschüsse bei Schulspeisung wett zu machen.
„Es ist ganz einfach ein Geschäftsmodell. Eine Regionalregierung, die den ganzen Tag vom freien Markt redet, schiebt ideologisch befreundeten Unternehmern Schulen zu, die mit staatlichen Geldern bezahlt werden“, lautet das Urteil von José Antonio Martínez. Der pensionierte Lehrer war über drei Jahrzehnte Direktor einer öffentlichen Schule in Madrid und steht der spanienweiten Rektorenvereinigung vor und gehört dem spanienweiten Schulrat, eine Institution in der Vertreter der Verwaltung, Gewerkschaften und Elternvereine die Bildungspolitik analysieren und den Gesetzgeber beraten, an.
Für Martínez demontieren die Konservativen ein Schulsystem, das in den Jahren der Demokratie mühsam aufgebaut wurde und für Chancengleichheit stammt. Er selbst kommt aus einem armen Stadtteil im Süden der Hauptstadt und gehört zu den Ersten, die dank der in den 1980er Jahren entstanden öffentlichen Schulen den Weg aus der sozialen Isolierung an die Uni fand. „Gleiche Schulbildung für alle interessiert die Konservativen nicht“, sagt Martínez. Die Statistiken geben ihm Recht.
Im Jahr 2000 waren in Madrid 5,6 Prozent mehr Kinder ab drei Jahre in der Vorschule als im spanischen Schnitt. Heute sind es acht Prozent unter Schnitt. Das gleiche gilt für diejenigen, die nach den Pflichtjahren bis 16 weitermachen. 2000 lag Madrid 4,3 Prozent über dem Durchschnitt, heut knapp ein Prozent darunter. Außerdem steigt die Zahl derer, die ohne Abschluss die Schule verlassen. Knapp jeder Vierte gehört in Madrid zu dieser Gruppe, die keinerlei Chancen auf dem engen Arbeitsmarkt haben wird. „Bei Gini, einem Koeffizienten mit dem wir im Schulrat die Chancengleichheit messen, hat Madrid in den letzten Jahren fünf Prozent verloren“, weiß Martínez.
Er befürchtet, dass die Bildungspolitik in Madrid schon bald als Modell für ganz Spanien herhalten wird. Bildungsminister José Ignacio Wert bereitet ein Gesetz vor, dass die Privatisierung des Schulsystems beschleunigen und die Ausgaben in den öffentlichen Schulen und den Universitäten zusätzlich zusammenstreichen soll. Das gesetz sieht vor, dass Schulen bei Nebenfächern die Freiheit haben, sie zu Unterrichten oder nicht. „Wenn Politiker, die ein öffentliches Amt begleiten behaupten, dass der private Sektor die Aufgaben besser erledigen kann, dann ist das eine Bankrotterklärung und sie müssten eigentlich zurücktreten“, schimpft der Direktor.