© 2013 Reiner Wandler

Islamisten in der Krise

Tunesiens Islamisten versuchen verzweifelt die politische Initiative zurückzugewinnen. Nachdem am Freitag anlässlich der Beisetzung des ermordeten säkularen Oppositionspolitikers Chokri Belaid im ganzen Land – nach offiziellen tunesischen Angaben – 1,4 Millionen der insgesamt 11 Millionen Tunesier auf die Straße gingen, waren am Samstag die Islamisten an der Reihe.

Die Jugend der regierenden Ennahda mobilierte am Nachmittag auf die Avenue Bourguiba im Herzen der Hauptstadt Tunis. Es kamen – je nach Quellen – gerade einmal 3.000 bis 6.000, viele von ihnen radikale Salafisten mit ihren schwarzen Fahnen. Sie unterstützten lautstark die von Ennahda geführte Regierung. Diese kommt seit dem Mord an Belaid immer stärker unter Druck. Denn die Opposition vermutet die Attentäter im Umfeld der Ennahda-nahen Milizen der Liga zum Schutz der Revolution und wirft der Regierung Untätigkeit gegenüber gewaltbereiten Islamisten vor und fordern das Abdanken des Kabinetts.
Die Demonstrante, viele mit Knüppeln bewaffnet, suchten die Schuldigen für die Kritik an ihrer Regierung, dort, wo sie in Nordafrika immer gesucht wird, wenn es darum geht, unbequeme Antworten schuldig zu bleiben: Bei der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich. „Tunesien ist nicht Mali“ und „Frankreich hau ab“ lauteten die Rufe. Es war die wütende Antwort auf Erklärungen des französischen Innenministers Manuel Valls. Er sprach in einem Radio-Interview von „islamistischem Faschismus“ und wünschte sich ausdrücklich „den Sieg der demokratischen, säkularen Kräfte, die die Hoffnung der Jasmin-Revolution tragen, bei den nächsten Wahlen“.
Die schwache Beteiligung und das radikale Auftreten der Ennahda-Demonstranten zeugen von einer tiefen Krise innerhalb der islamistischen Partei. Der Regierungschef und Ennahda-Generalsekretär Hamadi Jebali versucht seit Tagen die Stimmung zu beruhigen. Er will der Opposition entgegenkommen und eine neue Regierung aus „unpolitischen Experten“ bilden. Er werde bis Mitte der Woche eine Ministerliste vorlegen. „Wenn es keine Einigung über meine Forderungen gibt, dann gehe ich zum Staatspräsidenten, und bitte ihn, einen neuen Ministerpräsidenten zu suchen“, droht Jebali.
Dieses Ultimatum gilt seiner eigenen Partei. Denn diese lehnt eine Regierungsumbildung bisher ab. Bei Ennahda hat sich der radikale Flügel, der sogenannte „Londoner Clan“, durchgesetzt. Es sind diejenigen, die nach der Revolution im Januar 2011 aus dem Exil zurückkamen. Ihr Führer ist der Parteivorsitzende und das spiritueller Oberhaupt der Ennahda, Rachid Ghannouchi, der 20 Jahre in einem Einfamilienhaus in London lebte, während Jebali mit einem heimischen Gefängnis Vorlieb nehmen musste.
Doch nicht nur die Haltung von Ennahda stellt für Jebali ein Problem dar. Am Sonntag zog sich eine der beiden kleinen, säkularen Parteien aus der Regierungskoalition zurück. Der Kongress für die Republik (CPR) von Staatspräsident Moncef Marzouki hatte seit Wochen auf eine Auswechslung des unter Korruptionsvorwürfen stehenden Aussenministers und des wegen gerichtlicher Verfolgung von Künstlern und Intelektuellen zu trauriger Berühmtheit gelangten Justizministers gefordert.
Ob der CPR einer Technokratenregierung unter Jebali zustimmen wird, oder ob der Bruch mit Ennahda zu einer neuen, nicht religiösen Mehrheit im Parlament führt, oder ob Tunesien gar unregierbar wird – alles ist möglich. Der Vorsitzende der neu entstandenen Zentrumspartei Nida Tounis und einstige Premier der Übergangsregierung vor den ersten freien Wahlen im Oktober 2011, Béji Caïd Essebsi, fordert unumwunden Neuwahlen. Eine Idee, die bei nicht wenigen Tunesiern auf Zustimmung stößt. Denn die Verfassungsgebende Versammlung war bisher nicht in der Lage das Grundgesetz für die künftige, tunesische Republik auszuarbeiten. Und der Einigungsprozess im säkularen Lager dürfte den Einfluss der Islamisten bei einem erneuten Urnengang deutlich zurückdrängen.

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