© 2013 Reiner Wandler

#tunisie Nationale Zerstrittenheit

Zehntausende zogen zum 2. Jahrestag der tunesischen Revolution durch die Innenstadt von Tunis. Anders als an jenem Freitag, dem 14.1.2011, an dem der langjährige Präsident Zine el Abidine Ben Ali nach einem Generalstreik und einer Massendemonstration die Flucht ins Exil antrat und so der arabische Frühling eingeleitet wurde, boten die Tunesier kein Bild der Einheit. Auf der einen Seite versammelten sich die Anhänger der führenden Regierungspartei, der islamischen Ennahda, auf der anderen Seite die weltlichen Kräfte. Zwischendrin allerlei radikale Gruppen, von den fanatisch-religiösen Salafisten im Polizeikessel bis hin zur extremen Linken.
„Das Volk will …“ halt es wieder durch die Straßen. Doch forderten sie damals einheitlich „… das Ende des Regimes!“ schreien jetzt die einen für einen Staat, der den Islam zur Grundlage hat und die anderen für „… eine zivile Republik“, für „Freiheit, Würde und Arbeit“. Nur eine Parole führen sie alle im Munde: „Dégage“ – „Verdufte“ – doch dieses Mal richtete sie sich nicht an einen Diktator, sondern an den jeweiligen politischen Gegner.
„Wir fürchten eine neue Diktatur, die schlimmer werden könnte als die alte“, erklärt Habib Kazdaghli. Der Geschichtsprofessor spricht von einer mittelalterlichen Politik, die „sich in alle Bereiche des Lebens einmischen will“. Der Dekan der Fakultät für Literatur und Geisteswissenschaften an der hauptstädtischen Universität Manouba, weiß wovon er spricht. Wochenlang war sein Lehrstuhl von radikalen Salafisten besetzt. Sie forderten, dass Frauen mit Ganzkörperverschleierung studieren dürfen, Studenten und Lehrkräfte nach Geschlecht getrennt Unterricht abhalten, sowie einen Gebetsraum. Kazdaghli und seine Lehrkräfte weigerte sich.
Trotz Todesdrohungen schritt die Polizei lange nicht ein. „Als sie endlich räumten, verhafteten sie niemanden“, beschwert sich der Dekan. Stattdessen muss Kazdaghli am 15.1.2013 vor den Richter. Er soll Studentinnen geschlagen haben. „Das ist eine völlig aus der Luft gegriffene Anschuldigung“, sagt er und beschuldigt die Ennahda, die sich selbst als „moderat“ bezeichnet, die Salafisten für ihre Ziele zu nutzen. „Die Regierung hat einen doppelten Diskurs, nach aussen gibt sie sich gemäßigt, nach innen hat sie ihren Fahrplan Richtung religiöser Republik.“
Kazdaghli traute sich nur umgeben von vielen Freunden auf die Demonstrationen. „Ich bin besorgt um die Zukunft Tunesiens, doch gleichzeitig optimistisch. Denn letztendlich haben wir die Universität als universelle Einrichtung verteidigt“, sagt Kazdaghli, der längst zum Symbol für die weltlichen, modernen Zivilgesellschaft geworden. Er selbst bezeichnet den Kampf um die Fakultät in Manouba als „eine Art Stalingrad für den Islamismus“.
Auch Radhia Belhaj Zekri spricht viel von „Ausharren“ und „Widerstand“, um Tunesien als „modernstes Land in der arabischen Welt“ zu wahren“. Sie ist eine der Frauen, die Ende der 1970er Jahre die ersten unabhängigen Frauenorganisationen Tunesiens mitgründete. „Die Ennahda-Regierung versucht alle Errungenschaften zu nichte zu machen“, schimpft die Lehrerin. „Doch bisher haben wir uns erfolgreich gewehrt.“
So musste das Übergangsparlament nach massiven Protesten das islamische Recht als Grundlage für den neuen Staat ebenso aus dem Verfassungsentwurf streichen, wie den Artikel nachdem Männer und Frauen nicht gleich sind, sondern sich ergänzen.
„Aber es bleibt viel zu tun“, mahnt Belhaj Zekri. „In der Verfassung werden die Menschenrechte nicht explizit anerkannt“, berichtet sie. Einige Formulierungen seien geeignet, sie breit auszulegen, so der Satz nachdem der Staat „den noblen Zielen des Islam“ verpflichtet sei. „Wir bleiben wachsam“ sagt sie.
Das wichtigste Ziel sei es nun, diejenigen, die für eine „zivile Republik“ eintreten, zu einen. „Wenn es bei den nächsten Wahlen nur zwei drei starke Parteienbündnisse gibt, haben die Islamisten keine Chance“, ist sie sich sicher. Der Urnengang ist für Ende Juni vorgesehen, auch wenn viele nicht daran glauben, dass das neue Grundgesetz tatsächlich bis dann vom Übergangsparlament fertiggestellt werden kann.
Der Einigungsprozess ist in vollem Gange. Das Linke hat sich zur Front Populaire zusammengefunden, das sozialdemokratische Lager zur Republikanischen Partei. Außerdem entstand mit Nidaa Tounes um den ehemaligen Übergangspremier Béji Caïd Essebsi eine neue, starke Kraft.
Mustapha Ben Ahmed ist einer der Gründer dieser Zentrumspartei. Der Veteran der großen tunesischen Gewerkschaft UGTT ist eigentlich ein Linker. „Es braucht eine solche Partei, um die Religiösen zu bremsen“, begründet er, warum er – wie viele seiner UGTT-Kollegen auch – nun einer Partei angehört, die auch so manchen Technokraten des alten Regimes in ihren Reihen hat. Seine Funktion als Gewerkschafter in der neuen Formation sieht Ben Ahmed im Kontakt mit den einfachen Leuten in den armen Vorstädten und auf dem Land. „Wenn wir dort nicht Fuß fassen, ist die moderne Grundlage Tunesiens ernsthaft gefährdet“, warnt er.
Auch die Islamisten wissen, dass dort der Streit um den neuen Staat entschieden wird. Die Salafisten und der Ennahda nahestehende Milizen der sogenannten Liga zum Schutz der Revolution greifen immer wieder Lokale der UGTT und von Nidaa Tounes an. Im Süden des Landes, in Tataouine, wurde sogar ein Mitglied der neuen Partei getötet.

Was bisher geschah: