© 2013 Reiner Wandler

#tunisie Die Revolution von "Siliana City"

 

„Willkommen im Café der Revolution“, grüsst Tarek Zakraoui. Wenn der 41-jährige Inhaber der Cafeteria Hollywood von Revolution spricht, meint er nicht den 14. Januar 2011, als die Tunesier Präsident Zine El Abidini Ben Ali verjagten. Er redet von den Tagen Ende November, Anfang Dezember 2012. „Wir haben den Gouverneur zum Rücktritt gezwungen“, berichtet er und blickt entschlossen hinüber auf die andere Seite des Platzes. Dort hinter Stacheldrahtrollen liegt der Palast des Vertreters der Zentralregierung in der Kleinstadt Siliana im Landesinneren von Tunesien. Tagelang demonstrierten die Menschen – mobilisiert von der Gewerkschaft UGTT – auf der Kreuzung vor dem Hollywood gegen die Untätigkeit der Verwaltung, „gegen Armut, Arbeitslosigkeit und für Würde“.

„Es hat sich seit 2011 nichts geändert“, erklärt Zakraoui warum. „Wir können jetzt frei reden, das ist aber auch schon alles. Die soziale Situation hat sich verschlechtert, die Arbeitslosigkeit steigt, alles wird immer teurer, und wenn wir uns beschweren, behandeln sie uns wie Tiere“, fügt er hinzu. Sie, das ist die Polizei. Am 28. November stürmte eine aus der Hauptstadt Tunis angereiste Sondereinheit den Platz und drsang in das Café ein, schlug auf alles, was sich bewegte, verschoss Gasgranaten und Schrotmunition. „Meine Frau Hadia war so geschockt, dass sie zusammenbrach“, erklärt Zakraoui. Im vierten Monat schwanger, setzten die Wehen ein. „Wenige Stunden später verlor sie unser Kind“, sagt Zakraoui mit gedrückter Stimme.
Das Hollywood – oder Holjudd, wie sie es hier aussprechen – ist wie jeden Abend gut besucht. Überall an den Tischen diskutieren junge Männer bei einem Glas Tee. Die Blicke schweifen ab, auf den Großbildschirm an der Wand. Dort laufen ununterbrochen internationale Musikvideos, in denen Frauen zu Hiphop-Rhythmen sinnlich tanzen. Die Gespräche drehen sich immer wieder um die Verletzungen, die sie am Tag des Polizeieinsatzes davongetragen haben. Viele zeigen kleine, kaum wahrzunehmende Punkte in der Haut. Darunter ist eine harte Stelle zu spüren. „Schrotkugeln“, erklären sie.
„Schrotkartuschen gegen Demonstranten einzusetzen ist völlig illegal“, schimpft der 23-jährige Saifdine Hassni. Ihn erwischten zwei Kügelchen im rechten Auge. Die Ärzte im Krankenhaus in der Hauptstadt Tunis versuchten alles, doch sie konnten die winzigen Bleiteilchen nicht entfernen. „30 Prozent Sehkraft habe ich noch“, sagt er. Der schwarzgekleidete Jungendliche schaut mit ernstem Blick unter einer Mütze eines us-amerikanischen Baseballteams hervor und zeigt ein Attest.
„So ist Tunesien. Nichts hat sich geändert“, schimpft auch Hassni. In seiner Familie hat die Rebellion Tradition. Sein Vater Hassan saß wegen Protesten gegen Ben Ali in den 1990ern für sechs Jahre im Gefängnis. Und der Großvater war zuerst gegen die französische Kolonialmacht und dann gegen den ersten Präsidenten des freien Tunesiens Habib Bourguiba auf Seiten derer aktiv, die dem arabischen Nationalismus anhingen, der noch heute in Siliana weit verbreitet ist.
Saifdine Hassni war selbstverständlich dabei, als Ende Dezember 2010 die Demonstrationen gegen Ben Ali auch auf Siliana übergriffen. Nach dem Sturz des Diktators beteiligte er sich an der Besetzung des Platzes vor dem Regierungspalast in Tunis, der Kasbah. Tausende aus dem Landesinneren angereisten Jugendlichen erzwangen im Frühjahr 2011 den Rücktritt der alten Garde aus der Übergangsregierung und die Wahl einer Verfassungsgebenden Versammlung.
Jetzt wo das Übergangsparlament im Amt ist, und die islamistische Ennahda zusammen mit zwei kleineren säkularen Parteien die Geschicke des Landes lenkt, fühlen sich die Menschen hier in Siliana erneut um ihre Revolution betrogen und in ihrem Stolz verletzt. „Für die Jugend wird nichts getan. Es gibt keine kulturelle Veranstaltungen, kein Geld für das Jugendhaus, keine Arbeit“, beschwert sich Hassni. Er ist seit dem Ende der Schulausbildung ohne Job. Bei über 25 Prozent liegt – so die offiziellen Zahlen – die Arbeitslosigkeit in der Region rund um Siliana mit ihren 230.000 Einwohnern mittlerweile. 4.000 junge Akademiker sind darunter.
Die einzige Möglichkeit in den von der Landwirtschaft geprägten 30.000-Einwohner-Städtchen die Zeit totzuschlagen, ist das Café Hollywood oder sich irgendwo versteckt mit Freunden zu treffen, um auf dem Schwarzmarkt gekauftes Bier oder „Shit“, völlig gestrecktes Haschisch, das über Algerien aus Marokko kommt, zu konsumieren.
„Manchmal ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass unter Ben Ali eigentlich alles viel besser war“, sagt Amal Ayari nachdenklich. Die 26-jährige, modern gekleidete Frau trägt ihr langes dunkles Haar offen. Sie gehört dem örtlichen Komitee der Opfer der Repression an. Der Grund: Ihr Bruder Marwen (24), der dabei sitzt, wurde an beiden Augen von Schrotkugeln getroffen und droht vollständig zu erblinden. Er wurde mit drei weiteren Verletzten nach Frankreich ausgeflogen. „Acht Tage war ich dort in Behandlung, dann wurde ich von einem Arzt der tunesischen Krankenkasse gezwungen zurückzukommen“, berichtet Marwen. Sein ganzer Körper sei voller Blei. „Am Flughafen spielte der Scanner verrückt“, erzählt der Mathematikstudent, der durch seine Verletzung die Abschlussprüfung an der Universität verpassen wird.
Amal Ayari arbeitet in der Hauptstadt Tunis in der Verwaltung eines Krankenhauses. Der Job ist Teil eines Arbeitsbeschaffungsprogramms. Sie erhält umgerechnet 60 Euro pro Monat. „Und das obwohl der tunesische Mindestlohn eigentlich bei umgerechnet 140 Euro liegt“, schimpft sie. Die richtigen Stellen gingen – sofern sie ausgeschrieben werden – an Anhänger der islamistischen Ennahda. „Es ist wie einst unter Ben Ali, sie infiltrieren die gesamte Verwaltung“, beschwert sich Ayari. „Zum Glück habe ich sie nicht gewählt“, sagt sie dann noch.
Mit dem Komitee der Opfer der Repression will Ayari zumindest eine Entschädigung für die über 300 Verletzten des Polizeieinsatzes erreichen. Der neue Gouverneur, ein Technokrat aus der Hauptstadt, der zum Jahresbeginn eingesetzt wurde, hat die Gruppe sowie Vertreter der Gewerkschaft UGTT empfangen. Konkrete Zusagen macht er keine.
Die Verwaltungsbüros im Gouverneurssitz sind mittlerweile wieder geöffnet. Der Trakt mit dem Büro des Amtsinhabers allerdings liegt hinter einer verschlossenen Tür. Selbst seinen engsten Mitarbeitern wird nur nach ausdauerndem Klopfen von einem Polizeioffizier von Innen geöffnet. In den Ort traut sich der Gouverneur nicht. Gesprühte Parolen wie „Fuck Ennahda“, der auch er angehört, oder „Dégage!“ – „Verdufte!“ – wie sie einst auch Ben Ali zuriefen – zeigen, das er und seine Partei hier nicht willkommen sind.
„Wer eine Nacht länger geschlafen hat, hat einen Betrug mehr hinter sich“, zitiert Hamed Gantassi ein altes Sprichwort und schimpft gegen die politischen Eliten, die den Übergangsprozess zum neuen Tunesien unter sich ausmachen und die Jugend, die Ben Ali aus dem Land gejagt hat, dabei völlig übergehen.
Der 25-jährige bärtige, korpulente Mann ist vieles: Kleinunternehmer, Musiker, Manager einer Rap-Band … Doch vor allem ist er eines: Romantiker. Er kam nur wenige Wochen nach der Revolution 2011 aus Paris, wo er aufgewachsen ist, nach Siliana. Gantassi ist hier geboren, ging aber im Alter von drei Jahren mit seinen Eltern nach Frankreich. „Mein Vater – mit dem ich nur bedingt ideologisch übereinstimme – ist ein führendes Ennahda-Mitglied und floh vor der politischen Verfolgung unter Ben Ali“, erklärt er, wie es die Familie in den Pariser Stadtteil Barbés verschlagen hat.
Jetzt will Gantassi „etwas für die Heimat tun“. „Hier im Landesinneren gibt es gut ausgebildete, junge Menschen, doch es fehlt an Infrastruktur, um Investitionen anzuziehen und so Arbeitsplätze zu schaffen“, sagt er. Er beschwert sich darüber, dass alle Produkte aus der Landwirtschaft in Fabriken an der Küste verarbeitet werden, statt vor Ort. Siliana ist kein Einzelfall. 15 Regionen im Landesinneren haben die gleichen Probleme. Die Straßen sind schlecht. Ausbaupläne gibt es seit Langem, doch weder Ben Ali noch die neue Regierung setzt sie um. Die Investoren bleiben deshalb aus.
Gantassi es dennoch gewagt und ein Callcenter aufgebaut. 20 junge Tunesier und Tunesierinnen arbeiten für ihn. Der Kunde ist ein französisches Unternehmen, das französische Hausbesitzer per Telefon für den Bau von Solardächern gewinnen will.
Natürlich war auch Gantassi auf den Demonstrationen, die Papas Parteifreund aus Siliana jagten. Für eine kleine Gruppe von Rappern – die African Warriors – ist der junge Mann, der sich kleidet, als käme er aus der Bronx, ein Idol. Sie hören ihm zu, wenn er von Barbés erzählt, von seiner problematischen Jugend in Paris, seinen Problemen mit der französischen Polizei und seinen insgesamt zwei ein halb Jahre Haft in Frankreich. „Als ich nach Tunesien einreiste, zeriss ich meinen französischen Ausweis“, sagt er zufrieden. Dort hätten sie ihn ja eh nie akzeptiert.
Mit den African Warriors hat Rap-Manager Gantassi den Traum, einmal ganz groß herauszukommen. Einen bescheidenen Erfolg hat die Combo bereits gelandet. Der am PC unter der Marke „Hollywood Studio“ aufgezeichente und geschnittene Song „Siliana City“, ist so etwas wie die heimliche Hymne der Kleinstadt. Der Video-Clip zeigt Bilder von den Demonstrationen, den Polizeiübergriffen und den Verletzten. „… wir gehen nicht zurück, diese Zeiten sind vorbei, wir bewegen uns, wir gehen weiter, auch wenn uns der Wind entgegenschlägt, ich bin nicht gebrochen …“, rappen sie sich auf Englisch und Arabisch Mut zu.

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