© 2012 Reiner Wandler

Der "empörte Polizist"

„Am Tag des Generalstreiks gehe ich nicht arbeiten“, erklärt Javier Roca Sierra entschlossen. Der 47-Jährige ist Beamter bei der Stadtpolizei von Madrid. „Die Verfassung verbietet es uns Polizisten zu streiken. Aber ich habe mir den Tag frei genommen“, sagt er. „Hätte mein Chef dem nicht zugestimmt, hätte ich mich krank schreiben lassen. Während eines Generalstreiks zu arbeiten, kommt für mich nicht in Frage.“

„Rocky“ nennen seine Freunde den großen, kräftigen Mann, der seit mehr als einem Jahr vielen Spaniern als der „empörte Polizist“ bekannt ist. Denn Roca Sierra meldete sich Juli 2011 auf einer Protestversammlung an der Puerta del Sol im Herzen Madrids zu Wort. Er sprach über die soziale Not der Opfer der Sparpolitik, von der er und seine Polizeikollegen täglich Zeuge werden. „Auch wir sind empört, wir unterstützen Euch“, rief er unter tosendem Applaus.
Warum er diesen Schritt wagte? „Ich hatte die Bilder aus Barcelona gesehen“, erklärt Roca Sierra, der als Lehrer auf der polizeieigenen Schießanlage Dienst tut. Er wettert gegen die völlig überzogenen Polizeieinsatz gegen friedliche Protestierende in Spaniens zweitgrößter Stadt. Stundenlang schlugen die Beamte auf am Boden sitzende Menschen ein. Die Bilder gingen per Internet um die Welt. „Die Polizei setzt immer mehr auf unnötige Gewalt“, sagt Roca Sierra.
Nach seinem Auftritt an der Puerta del Sol wurde der Polizist, der vor seinem Lehrerposten fünf Jahre Nacht für Nacht im Zentrum Madrids Streifendienst geleistet hat, für fünf Tage vom Dienst suspendiert. „Nach einem mehrmonatigen Rechtsstreit mussten sie die Sanktion zurücknehmen“, erzählt Roca Sierra zufrieden.
Seither ist er auf jeder Demonstration der Gewerkschaften und der „Empörten“ anzutreffen. „Wir müssen alles nur mögliche tun, damit dieses System zusammenbricht“, erklärt der Beamte. Dass es soweit kommen wird, daran zweifelt Roca Sierra nicht. „Doch je schneller um so besser. Denn sonst laufen wir Gefahr, dass nicht mehr übrig bleibt.“ Er redet von der Sparpolitik, dem Abbau des Sozialstaates, von Kürzungen im Gesundheitswesen und in der Bildung: „Ich mache das für meine zwei Kinder, damit sie und ihre Generation überhaupt noch eine Zukunft haben.“ Für Roca Sierra regieren die Banken. „Deren Politik bringt Menschen um“, sagt er und verweist auf die Selbstmorde von Schuldnern, die aus ihrer Wohnung geräumt werden sollten.
Roca Sierra verlangt nach einer Polizei, „als Dienstleistung für die Bevölkerung und nicht als Unterdrückungsinstrument.“ Er würde niemals an Zwangsräumungen von Wohnungen oder an einem Einsatz gegen friedliche Demonstranten teilnehmen. „Das habe ich so immer wieder auf der Arbeit gesagt. Manche verstehen mich, für andere bin ich so etwas wie ein Aussätziger“, berichtet er. Doch mittlerweile entstand in der Gemeindepolizei in Madrid eine Vereinigung, die sich an den Empörten orientiert. „Der Slogan lauter: ‚Ein Polizei des Volkes!“, berichtet Roca Sierra.
Natürlich wird der „empörte Polizist“ auch heute (14.11.) Abend wieder an der Demonstration zum Abschluss des Generalstreiks teilnehmen. „Und danach umstellen wir einmal mehr das Parlament, wenn sie uns nicht wieder gewaltsam daran hintern“, sagt er. „Sie“, das sind seine Kollegen von der Nationalpolizei, die mehrmals Umzingelungen des Parlaments aufgelöst haben. „Die Alternative zum Neoliberalismus ist das Bewusstsein“, zitiert Javier Roca Sierra den Literaturnobelpreisträger Saramago und fordert seine Kollegen zum Nachdenken auf.

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