© 2012 Reiner Wandler

Tunesien auf steinigen Wegen

Tunesien spielt den Vorreiter. Anders als Ägypten nimmt sich das kleine, nordafrikanische Land, das mit dem Sturz von Diktator Zine el Abidine Ben Ali am 14. Januar 2011 die Proteste und Revolutionen im arabischen Raum auslöste, viel Zeit für die neue Verfassung. Ein im vergangenen Oktober gewähltes Übergangsparlament soll die Magna Carta diesen Herbst vorlegen. Im März 2013 werden die Tunesier dann ihre neuen Institutionen wählen. Das Land durchlebt einen Übergang, der nicht immer einfach ist.

„Seit der ersten Sitzung der Verfassungsgebenden Versammlung vergeht kein Tag, an dem sie nicht dem Druck religiöser Zwischenfälle oder Debatten ausgesetzt ist“, beschwert sich Yadh Ben Achour. „Die Religion nimmt ganz massiv die sozialen und politischen Debatten in beschlag“, spricht der Professor und ehemalige Präsident der unabhängigen Kommission, die den Politischen Wandel vom Sturz Ben Alis bis zu den ersten freien Wahlen vorbereitete aus, was vielen Sorge bereitet. Ob bei der Präambel der Verfassung oder bei einzelnen Paragrafen, im Übergangsparlament werden ständig Stimmen laut, die den Koran zur Grundlage machen wollen. Auf der Straße demonstrieren radikale salafistische Gruppen ihre Stärke. Es kommt immer wieder zu Übergriffen auf fortschrittliche Politiker, Kulturveranstaltungen und zu Auseinandersetzungen an den Universitäten.

„Das Land braucht Konsens und Einheit“, gibt sich Ennahda Chef Rachid Ghannouchi in dieser schwierigen Situation betont gemäßigt. Seine Ennahda regiert mit zwei kleineren, säkularen Parteien aus dem Mitte-Links-Spektrum, der Ettakatol, deren Parteichef Mustapha Ben Jafaar der Verfassungsgebenden Versammlung vorsteht und dem Kongress für die Republik (CPR) deren Vorsitzender Moncef Marzouki Staatspräsident ist.

Die Ennahda-Führung befindet sich auf einer Gradwanderung zwischen der eigenen Parteibasis, die sich vom Wahlsieg eine schnelle Islamisierung des Landes versprach, und der wesentlich breiteren, nicht nur religiösen Wählerschaft. So verzichtete Ennahda unter Druck der restlichen politischen Kräfte darauf, das islamische Recht als Grundlage des neuen Tunesiens in der neuen Verfassung zu verankern.

Dennoch stehen die Islamisten in der Kritik. So legte das Komitee, das die Reform der Medien vorbereiten sollte, seine Arbeit nieder, nachdem die Regierung eigenmächtig die Chefetagen bei Funk und Fernsehen neu besetzt hatte. Außerdem wurde der Koran doch noch durch die Hintertür in die Verfassung aufgenommen. Der Staat soll künftig über die „heiligen Werte“ wachen. So mancher befürchtet eine neue, theokratische Zensur. Viele werfen Ennahda außerdem vor, zu zögerlich gegen die Salafisten vorzugehen.

Die eigentliche Prüfung kommt für Tunesien beim nächsten Urnengang im März. Bei den Wahlen im Oktober 2011 hatte Ennahda als einzige gut organisierte Partei ein leichtes Spiel. Jetzt hat sich das zersplitterte, weltliche Lager zu zwei großen neuen Parteien zusammengefunden, um den Islamisten die Stirn zu bieten.

Zuerst erschienen: Y-Magazin 10/2012

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