© 2012 Reiner Wandler

Ein Leben, wie die Geschichte der spanischen Linken

Mit tiefer Trauer im Gesicht, mit dem Wissen, dass ihm selbst nur noch wenig Zeit vergönnt sein wird, so stand Santiago Carrillo an jenem regnerischen Samstag, dem 30. Oktober 2010, auf dem Madrider Zivilfriedhof. Zusammen mit zehntausenden Gewerkschaftern trug er den historischen Gewerkschaftsführer und Freund Marcelino Camacho zu Grabe. Es war einer der letzten öffentlichen Auftritte Carrillos, dem bekannten, ehemaligen Generalsekretär der Kommunistischen Partei Spaniens (PCE). Am Dienstag verstarb Santiago Carrillo und mit ihm einer der wichtigsten Politiker der bewegten Vergangenheit Spaniens.

Jungsozialist in den 1920er Jahren, Führer der vereinigten sozialistisch-kommunistischen Jugend und Mitglied im Zentralbüro der PCE in den 1930ern, Verantwortlich für die öffentliche Sicherheit Madrids im spanischen Bürgerkrieg, 38 Jahre im Exil, unter anderem in Frankreich, den USA und der Sowjetunion, schließlich Generalsekretär der PCE von 1960 bis 1983, Abgeordneter nach den ersten Wahlen 1977 und 1985 von seinen orthodoxen Gegnern aus der Parteiführung ausgeschlossen … Das Leben Carrillos liest sich, wie eine Zusammenfassung der Geschichte der spanischen Linken.
„Der Kapitalismus kann soweit gehen, die menschliche Spezie zu vernichten“, lautete das Zitat Carrillos, das sein Foto an der Wand über dem offenen Sarg schmückte. Über 30.000 Menschen – Politiker aller Parteien, Künstler, Gewerkschafter und einfache Bürger mit und ohne Parteibuch – standen stundenlang vor dem Saal des Gewerkschaftshauses, der mittlerweile den Namen Marcelino Camacho trägt, Schlange. Betroffenes Schweigen, erhobene Fäuste, der Gruß der republikanischen Bürgerkriegsmilizen oder eine andächtige Bekreuzigung … die Gesten der Trauernden zeugten von den Emotionen, die Carrillos Tod bei den unterschiedlichsten Menschen hervorruft.
Trotz des bewegten Lebens und seiner oft unbequemen politischen Ansichten gilt Carrillo den Linken aller Couleur als Vordenker, der stetig daran gearbeitet hatte, das zerrissene Spanien wieder zusammenzuführen. Ende der 1950er Jahre setzte er zwei Jahrzehnte vor Ende der Diktatur unter General Franco, in der PCE die Linie „der nationalen Aussöhnung“ durch. Nach dem Tod des Diktators streckte Carrillo, der mit Berlinguer in Italien und Marchais in Frankreich zu den wichtigsten Vertretern des Eurokommunismus zählte, seinen einstigen Gegnern die Hand und rang um Kompromisse für ein neues, demokratisches Spanien.
„Der Übergang hätte sicher anders ausgesehen, wenn Carrillo nicht einige bedeutenden Entscheidungen getroffen hätte“, würdigte der Vorsitzende der sozialistischen PSOE, Alfredo Pérez Rubalcaba, den Verstorbenen. „Carrillo war einer der vielen, der an diesem wichtigen Abschnitt der spanischen Geschichte beteiligt war“, schloss sich die Vizepräsidentin der konservativen Regierung Soraya Saénz de Santamaría dem ebenso an, wie König Juan Carlos.
Carrillo selbst war in den letzten Jahren nicht mehr so optimistisch, wenn es um Aussöhnung und Demokratie ging. Schuld daran waren die Härte, mit der Spaniens Konservativen unter dem heutigen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy und die katholische Kirche Opposition gegen fortschrittliche Reformen, wie die Ausweitung des Rechts auf Abtreibung oder die Homoehe betrieben, sowie das Berufsverbot gegen Richter Baltazar Garzón, der versucht hatte, die Verbrechen der Franco-Diktatur aufzuarbeiten.
Carrillo warf den Konservativen in einer Radiodebatte, an der er bis zur Sommerpause wöchentlich teilnahm, vor, „weiterhin den alten Werten“ anzuhängen und bezeichnete die Kirche als „mittelalterlich“.
Ultrakonservative und Faschisten machten den historischen Politiker ihrerseits zur Zielscheibe. Für sie war Carrillo verantwortlich für Massenhinrichtungen im Bürgerkrieg seitens der Verteidiger der spanischen Republik – und das obwohl kein Gericht jemals Anlass zu Ermittlungen sah. Immer wieder kam es zu Übergriffen, wenn Carrillo öffentlich auftrat, zuletzt bei der Verleihung eines Ehrendoktors in Madrid.
„Eine Beerdigungsfeier, auf keinen Fall“, lautete der letzte Wunsch des überzeugten Atheisten. Sein Leichnam wurde am Donnerstag eingeäschert. Nicht einmal ein Grab, dort auf dem zivilen Friedhof neben seinem Freund Camacho und vielen anderen linker Größen wollte er haben. Seine Asche wird im nordspanischen Atlantik ausgestreut, an dessen Ufern Carrillo vor knapp 97 Jahren geboren wurde.

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