© 2012 Reiner Wandler

Das ständige Provisorium

Algerien feiert den 50. Jahrestag seiner Unabhängigkeit, wie einst die Unabhängigkeit selbst – mit einer provisorischen Regierung. Seit den Wahlen am vergangenen 10. Mai hat sich Präsident Abdelaziz Bouteflika nicht entschließen können, wem er das Amt des Regierungschefs überträgt. Ahmed Ouyahia von der Nationalen Demokratischen Versammlung (RND), die sich einst in den 1990er Jahren von der ehemaligen Einheitspartei, der Nationalen Befreiungsfront (FLN) abspaltete, regiert weiter. Und das obwohl der Technokrat, der unter mehreren Staatschefs gedient hat, die Wahlen verlor. Stärkste Kraft in der Nationalversammlung ist wieder die FLN. Doch Bouteflika, selbst Mitglied dieser Formation, scheint seinen Parteigenossen nicht zu trauen. Er beschränkte sich darauf sechs Minister, die bei den Wahlen nicht mehr den Einzug ins Parlament schafften, zum Rücktritt zu bewegen. Ansonsten blieb bisher alles beim Alten.
„In Algerien ist es das Provisorische, was andauert. Als wäre die Bildung einer neuen Regierung ein großer Luxus“, schreibt die Tageszeitung Expression. Alle im Lande sind sich einig, Parlament und Regierung sind eigentlich nur ausführende Organe. „In Algerien trifft eine Gruppe der Mächtigen im Hintergrund, eine Gruppe aus verschiedenen Interessen, die Entscheidungen. (…) Der moderne algerische Staat ist nur die Fassade. Dahinter steckt noch immer dieses Kollektiv, die klandestine Gruppe“, beschreibt der in Deutschland und Frankreich preisgekrönte und zu Hause verhasste Schriftsteller Boualem Sansal, wie das Land seit 50 Jahren funktioniert. Keiner seiner Mitbürger würde ihm ernsthaft widersprechen.
Es ist dieses schwierige Gleichgewicht aus Interessen der Generäle, der großen Organisationen und regionalen Fürsten der FLN, die Bouteflika bei der Ernennung eines neuen Regierungschefs und dessen Kabinetts solange zögern lässt. Die algerische Verfassung, die nach dem Wahlsieg der Islamischen Heilsfront (FIS) und dem Militärputsch 1992 maßgeschneidert wurde, ermöglicht es dem Staatschef eine Regierung trotz eines gegenteiligen Urnenganges im Amt zu lassen. Widerstand regt sich keiner. Die Oppositionsparteien sind schwach. Zaghafte Ansätze zu einer Demokratiebewegung wie in den Nachbarländern Tunesien oder Marokko scheiterten kläglich an einem starken Polizeiaufgebot.
Selbst als jetzt nach dem Urnengang am 10. Mai, der von Bouteflika angesichts des arabaischen Frühlings zu den ersten „wirkliche transparenten Wahlen“ erklärt wurde, eine unabhänige Wahlkommission erklärte, die Wahl entbehre „jeder Legitimität“, blieb es ruhig im Lande. Die Erklärung dafür ist einfach. Die Algerier sind politikverdrossen und vor allem haben sie Angst.
„Wir hatten unseren Frühling 1988, und schau was daraus geworden ist“, bekommt generell zur Antwort, wer nach dem arabischen Frühling fragt. Damals Ende der 1980er Jahre brach das Einparteiensystem nach Jugendprotesten zusammen. Nur wenige Jahre später, nach dem Abbruch der ersten freien Wahlen 1992, versank das Land in einen zehnjährigen Krieg zwischen Islamisten und Armee. In einem völlig unübersichtlichen Konflikt verloren 200.000 Menschen ihr Leben. Tausende verschwanden in den Händen der Staatsmacht. Das „schwarze Jahrzehnt“, wie es die Algerier nennen, hat tiefe Spuren hinterlassen.

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