© 2012 Reiner Wandler

Der andere Kandidat

„Hier war ich sechs Stunden.“ … „Hier acht.“ … „Hier fünf.“ … Wer mit Hakim Addad durch Algier zieht, bekommt nicht etwa die Sehenswürdigkeiten der algerischen Hauptstadt gezeigt, es sind die Polizeiwachen, auf die der 48-Jährige verweist. Er kennt sie fast alle. Zum letzten Mal wurde er Ende April bei einem Sit-In vor dem Gerichtsgebäude in Algier verhaftet. Arbeitslose und Jugendlichen mit einem schlecht bezahlten, sogenannten Vorvertrag, waren gekommen, um einen der Ihren zu unterstützen, der wegen der Teilnahme an einer nicht genehmigten Demonstration abgeurteilt wurde. Addad mischt sich seit 1991 in die Politik ein.

Der hagere, quirlige Mann ist Gründer der RAJ. Die Abkürzung steht für die unabhängige Rassemblement d’Action Jeunesse – Jugendaktionsversammlung und klingt gleichzeitig wie das französische Wort rage für Wut. Addad hat wegen seines Engagements die Arbeitsstelle bei der Post verloren. Der Reisepass wird seit Monaten nicht verlängert. Jetzt kandidiert er auf der Liste mit der Nummer 17 der ältesten algerischen Oppositionspartei der Front der Sozialistischen Kräfte (FFS) des Befreiungskriegsveteranen Hocine Ait Ahmed bei den Parlamentswahlen am kommenden Donnerstag (10. Mai).

Addad versucht „einen anderen Wahlkampf“ zu machen. „Mein Ziel ist es nicht alleine in die Nationale Volksversammlung zu kommen“ – als Nummer 6 auf der Liste in der Hauptstadt könnte dies knapp gelingen – „ich will vielmehr den kleinen Freiraum nutzen, den der Wahlkampf bietet, um mit den Menschen über Politik zu reden, sie zu mobilisieren“, sagt er. Dabei kämpft er vor allem gegen die Wahlmüdigkeit seiner Landsleute. Vor fünf Jahren ghingen gerade einmal 36 Prozent wählen. In Algier waren es gar nur 18,4 Prozent. Dieses Malk ist die Wahlbegeisterung eher noch gesunken. Selbst bei den großen Parteien blieben die Säle leer. Die ehemaligen Einheitspartei FLN und deren und Regierungspartner RND mussten in der Provinz Versammlungen mangels Publikum absagen. Das islamistische Bündnis „Allianz für eine grünes Algerien“ um die Partei Hammas, die seit Ende der 1990er mitregiert, und jetzt stärkste Kraft im Regierungsbündnis werden will, füllt ihre Säle mit bezahlten Fußballfans.

Addad ist auf dem Weg nach Bab el Oued. Das westlich der Innenstadt gelegene Viertel hat für ihn und für Algerien eine ganz besondere Bedeutung. Hier brachen am 5. Oktober 1988 die Unruhen aus, die das Ende des Einparteiensystems einleiten sollten. „Mindestens 500 Tote gab es damals“, erklärt Addad. Miterlebt hat er dies freilich nicht. Der Sohn eines algerischen Immigranten und einer französischen Mutter wuchs zwischen Algerien und Frankreich auf. Es war die politische Öffnung nach den Unruhen, die Addad, der bei der sozialistischen Partei und SOS Rassismus in Frankreich aktiv war, zurück nach Algier brachte. „Am 22. November 1991 kam ich mit dem Schiff aus Marseille an“, erinnert er sich. Schon wenige Wochen später, am 11. Januar 1992, war es vorbei mit der Hoffnung auf Freiheit und ein neues Algerien. Die Islamistische Heilsfront (FIS) hatten die erste Runde der ersten freien Parlamentswahlen gewonnen. Die Armee brach den Wahlprozess ab und übernahm die Macht.

„Ich war für das Beste gekommen und ich bin geblieben um das Schrecklichste zu erleben, was eine Gesellschaft hervorbringen kann“, erklärt Addad. Das Land versank in einem zehnjährigen blutigen Konflikt. 200.000 Menschen verloren ihr Leben, über 10.000 Algerier verschwanden in den Händen der Sicherheitskräfte für immer. Unter den Opfern waren auch Bekannte Addas. Bab el Oued war eine der Hochburgen der Islamisten. Anschläge und brutale Repression bestimmten jahrelang den Alltag. Zusammen mit einem Freund gründete Addad 1993 die Jugendorganisation RAJ, die erste und bisher einzige, die Jugendliche unterschiedlicher Weltanschauungen zusammenführte, um für ihre Interessen einzustehen. Bis heute ruft die RAJ am 5. Oktober zu einer Gedenkkundgebung für die Opfer von 1988.

„Die Polizei schreitet jedes Jahr ein“, erzählt Addad, der dabei regelmäßig die Polizeiwache von innen kennenlernt. „1996 schnappten sie mich und fuhren mit mir mehr als zwei Stunden ziellos umher. Ich dachte, das war’s. Die lassen dich verschwinden.“ Schließlich wurde er wieder freigelassen. Ein Jahr später heiratete Addad seine Frau Samira, mit der er mittlerweile zwei Kinder hat, ebenfalls am Morgen eines 5. Oktober. „Mittags sass ich dann schon wieder auf der Wache“, grinst er. „Ein Polizeibeamter schimpfte mich aus. ‚Was zum Teufel machst Du hier. Schau, dass Du in die Flitterwochen kommst.’“

All diese Erinnerungen werden auf dem Weg nach Bab el Oued wieder wach. Auf Addas Programm steht ein Besuch beim Jugendkulturzentrum SOS Bab el Oued. Die Einrichtung entstand vor zehn Jahren. Eine Flutkatastrophe hatte den Stadtteil damals heimgesucht. Die Gründer von SOS Bab el Oued öffneten mit Geldern einer französischen NGO das Lokal neben einem kleinen Park. Ein Proberaum, Theater-Workshop, Musik- und Sprachunterricht, Debatten, Filmvorführungen sollen helfen, die alltägliche Misere und die dramatischen 1990er Jahre zu vergessen.

Zwei Dutzend junger Erwachsener erwarten Addad. Es ist ein bunter Haufen. Rocker, Rapper, ordentlich gekleidete Studenten, Mädels mit Schleier, andere mit engen Klamotten, grell geschminkt – Bab el Oued hat sich verändert, seit die Gewalt nicht mehr den Alltag bestimmt. Die Diskussion bei Tee und Gebäck dreht sich um ganz konkrete Sorgen, wie die Jugendarbeitslosigkeit, niedrige Löhne, viel zu kleinen Wohnungen, der zunehmende Drogenkonsum unter der Jugend, aber auch um die politische Situation, den arabischen Frühling, mangelnde Freiheiten in Algerien.

Bei einem sind sich alle einig. Wählen geht keiner. Auch Addad kann die jungen Menschen nicht dazu bewegen, obwohl seine politische Aussagen durchaus auf Zustimmung stoßen. „Niemand nimmt sich der Probleme der Menschen wirklich an“, schimpft Hinab auf die Politik. „Viele junge Menschen sind sehr gut ausgebildet, aber es gibt einfach keine Zukunftsperspektive“, fügt sie hinzu. Die 25-jährige Übersetzerin schlägt sich mit Gelegenheitsjobs als Tontechnikerin in der Werbebranche durch und lebt bei ihren Eltern. Sie gehört zu den zwei Dritteln der algerischen Bevölkerung, die unter 35 Jahre alt ist. Ein gutes Einkommen, eine eigene Wohnung, eine Familie gründen ist für die meisten nicht möglich. Viele kennen deshalb nur einen Wunsch: Auswandern. Doch Hibab will „erst einmal“ bleiben. „Ich werde versuchen hier mein Ding zu machen“, sagt die schmächtige Frau mit langem braunen Haar, die fast ihre ganze Freizeit im Proberaum des Jugendclubs verbringt. Sie spielt Violine in einer Folkrockband.

Auf die Revolution in Tunesien angesprochen, kommt sie ins Schwärmen. Doch eine ähnliche Entwicklung für Algerien sieht Hibab nicht. „Wir hatten unseren Frühling 1988 und dann kam der Alptraum“, sagt sie. 1987 geboren bestand Hibabs ganze Kindheit und ein Teil der Jugend aus einem „Hochsicherheitsleben zwischen Schule und Wohnung“. „Wir konnten nicht auf der Straße spielen, wie normale Kinder“, erzählt sie. Hinzu kam die ständige Angst um ihren Vater, damals Chefredakteur einer Zeitung, die einst eines der Organe des Einparteiensystems war. Journalisten standen ganz oben auf der Liste der Anschlagsziele. „Wir haben wenigstens eine große Wohnung. Das machte es leichter“, fügt Hibab hinzu.

Sie ist damit die Ausnahme in Bab el Oued. Viele Familien – auch kinderreiche – wohnen in ein oder zwei Zimmern. „Doch obwohl Bab el Oued im Januar 2011 durch gewaltsame Demonstrationen wieder einmal Schlagzeilen machte, ist es bei weitem nicht der schlechteste Stadtteil“, wendet sich die junge Frau gegen das übliche Bild von Bab el Oued. Der Stadtteil hat sich tatsächlich verändert. In den letzten Jahren hat der Staat viel Geld in Algiers Innenstadt investiert. Die Uferpromenade von Bab el Oued wurde zum Flanieren ausgebaut. Parks wurden angelegt, eine U-Bahn eröffnet. Bald schon wird auch Bab el Oued eine Station bekommen.

Draußen in der Banlieu Algiers sieht es ganz anders aus. Hierher verirrt sich auch im Wahlkampf nicht einmal Addad und seine FFS. Dar el Beida ist einer der sozialen Brennpunkte. Die ehemalige Einheitspartei FLN, die seit der Unabhängigkeit Algeriens vor genau 50 Jahren das Land regiert, hat als einzige zu einer Wahlkampfveranstaltung geladen. Der Saal ist spärlich gefüllt. „Ich habe 100 Dinar bekommen“, sagt Tarik. Die Meisten seien wegen des Handgeldes von umgerechnet einem Euro gekommen, berichtet der 35-Jährige. Dem Staatsfernsehen solle so eine Kulisse geboten werden. Tarik lebte 10 Jahre in Deutschland und der Schweiz.
„Als meine Eltern starben, kam ich zurück, mich um die Familie kümmern“, berichtet der junge Mann. Er ist arbeitslos, schlägt sich mit dem Verkauf von Haschisch und kleinen Diebstählen durch, gesteht er ganz offen. Zu fünft wohnen sie in einem kleinen Zimmer in einem der heruntergekommenen Wohnblocks, die Straße hat keinen Gehsteig, der Asphalt fehlt fast komplett.

Die Reformversprechen der FLN, die Reden vom „algerischen Frühling“, der Aufruf zu den Wahlen zu gehen, sind für ihn nur „Geschwätz“. „Lügner“ und „Gauner“ sind noch die freundlichsten Bezeichnungen, die er für den Bürgermeister und die örtlichen Kandidaten der FLN findet, die unter einem Transparent auftreten, dass dem Symbol der tunesischen Revolution, einem Kreis aus Armen mit der Landesfahne, nachempfunden ist. „Wir leben wie die Tiere, während sie sich am Öl und Gasreichtum des Landes bedienen. Die haben kein Herz sondern ein Klumpen aus Metall“, schimpft Tarik und warnt: „Das wird wieder in Gewalt enden.“

Der Unmut weiter Teile der Bevölkerung macht sich ständig Luft. So Ende April in Jijel, 360 Kilometer östlich der Hauptstadt: Nachdem sich ein fliegender Händler selbst anzündete, um gegen seine unerträgliche soziale Lage zu protestieren, stürmten Jugendliche die Provinzverwaltung, steckten staatliche Gebäude in Brand. Es war nicht die erste Selbstverbrennung. Die algerische Presse zählt seit Beginn 2011 Dutzende solcher Aktionen. Doch anders als in Tunesien sprang der Funke der Proteste nie auf ganz Algerien über. Die Opposition sei völlig zersplittert und sei deshalb nicht in der Lage die Proteste zu einen, erklärt Addad, warum das so ist.

„Außerhalb des Wahlkampfes können wir uns kaum versammeln und schon garnicht legal auf die Straße gehen.“ Die Demonstrationen 2011 für mehr Demokratie sahen sich riesigen Polizeiaufgeboten gegenüber. Zwar wurde vor etwas mehr als einem Jahr der seit 1992 geltende Ausnahmezustand aufgehoben, doch werden in Algier weiterhin keine Protestmärsche genehmigt. „Die Zivilgesellschaft ist nicht tot, aber sie lebt wie unter einen schweren Deckel. Das ist gefährlich für die Zukunft des Landes“, warnt Addad, und hat dabei die Lage in Syrien und Libyen vor Augen: „Wir nehmen an den Wahlen Teil, um das Terrain nicht alleine der Regierung zu überlassen, um für einen friedlichen Wandel einzutreten.“

Am Ende des Tages isst der Kandidat in seinem kleinen Stammrestaurant in Algiers Innenstadt zu abend. Hier kennen ihn alle. Er wohnt gleich um die Ecke. Vor der Kneipe ruft er einer Gruppe junger Männer zu: „Ihr wisst schon, am 10. Mai Liste 17.“ – „Lass mal gut sein. Kein Mensch wird wählen gehen“, lautet die Antwort. „Ihr versteht es einem so richtig Mut zu machen“, entgegnet Addad müde und geht nach Hause. Morgen ist wieder Wahlkampf.

Was bisher geschah: