© 2012 Reiner Wandler

Stimmen aus der Welt der Empörten

„Das ist Lina Ben Mhenni“, wird mir die zierliche Frau vorgestellt. Es ist der 16. Januar 2011. Vor zwei Tagen hatte tunesische Präsident Zine el-Abidine Ben Ali fluchtartig das Land verlassen. Tunesien war nach 23 Jahren endlich von seiner autoritären Herrschaft befreit. Die junge Frau steht im Büro einer lokalen Bürgerrechtsorganisation. Die Räume in der Innenstadt von Tunis sind überfüllt. Mitglieder der Gruppe, Freunde, Journalisten sind erschienen. Das Lokal war jahrelang amtlich versiegelt. Jetzt stehen wir herum und reden über Politik, als wäre dies das normalste der Welt.

„Das Volk will den Sturz des Regimes!“

Der erste Eindruck von Lina Ben Mhenni täuscht. Die 27 Jahre junge Frau wirkt schüchtern und verletzlich, so ganz anders als damals am Telefon. Es war Anfang Januar, als ich erstmals ihre tunesische Handynummer wählte. Eben jene gemeinsame Bekannte, die uns jetzt vorstellte, hatte sie mir gegeben. Ich war in Madrid und benötigte dringend Kontakte ins tunesische Landesinnere. „Ruf einfach Lina an. Sie ist derzeit in Sidi Bouzid“, lautete der Ratschlag.


Ich wählte. Ein sympathische Stimme, bestätigte mir die Nachrichten über die Repression in Sidi Bouzid, den Polizeieinsatz in verschiedenen anderen Städten mit Feuerwaffen, über Schwerverletzte und Tote, ohne Angst, völlig sicher, mitten in Sidi Bouzid, dort wo sich am 17. Dezember 2010 der junge Gemüsehändler Mohamed Bouazizi aus Protest gegen Polizeiwillkür selbst verbrannt hatte, was die Jugendproteste in ganz Tunesien entfachte.

Die Lina am Telefon war Lina Ben Mhenni, wie ich später erfahren sollte, eine der Schlüsselfiguren der tunesischen Revolution. Unter dem Namen „A tunisian Girl“ (1) verbreitete die Dozentin für Linguistik auf ihrem Blog Eindrücke aus den Städten wie Sidi Bouzid, Kasserine, Rgueb oder Thala, die von den Sicherheitskräften eingeschlossen wurden.

Ben Mhenni stellte Texte auf arabisch, englisch, französisch – und mit Hilfe der Übersetzungen eines in Tunesien ansässigen Frührentners auch auf deutsch – ins Netz. Sie veröffentlichte Fotos und Videos von Demonstrationen, von Polizeieinsätzen, Schwerverletzten und Toten. Dank Facebook und dem Twitterkanal #tunisielibre verbreiteten sie sich in Windeseile und wurden so in ganz Tunesien bekannt. Immer mehr Menschen gingen auf die Straße: „Verschwinde!“ lautete ihre einfache, aber klare Aufforderung an Staatschef Ben Ali.

„Wir haben zwei Millionen Facebook-Benutzer bei 10,5 Millionen Einwohnern. Wer keinen eigenen Computer hat, geht in ein Cybercafe. An Internet heranzukommen ist kein großes Problem“, erklärt Ben Mhenni den Erfolg der sozialen Netzwerke.

Sie selbst hat ihre ersten Schritte im Internet 2007 während eines Studienaufenthaltes in den USA unternommen. „Ich habe von klein auf geschrieben“, erinnert sie sich, „irgendwann habe ich dann durch Zufall in einer Zeitschrift etwas über Blogs gelesen und gedacht, das wär doch was für mich“ Was dabei herauskam, war eher ein intimes Tagebuch. Ben Mhenni veröffentlichte Gedichte, kurze Texte, Eindrücke. „Es war ganz bestimmt kein politischer Blog“, sagt sie.

Doch bald schon kamen erste Texte über kleine, soziale Alltagsprobleme hinzu. Bereits das reichte: 2008 wurde der Blog in Tunesien gesperrt. „404 – page not found“ tauchte auf den Bildschirmen auf. Die politische Polizei Ben Alis hatte die Seite, wie so viele andere, sperren lassen. Ben Mhenni wollte dies nicht so einfach hinnehmen. Sie begann gegen die Zensur zu schreiben. Im Mai 2010 bereitete sie mit anderen Bloggern eine Demonstration für Internetfreiheit vor. Der Marsch wurde verboten, in Ben Mhennis Zimmer eingebrochen, Computer und Kamera entwendet.

Die streitbare Internautin ließ sich nicht einschüchtern. A tunisian Girl wurde immer politischer. Und mit Global Voices (3) fand Ben Mhenni auch eine internationale Plattform für ihre Texte. Für ihre mutige Berichterstattung wurde A tunisian Girl mit dem Blog-Award der Deutschen Welle „The BOBs“ ausgezeichnet.

„Alleine kannst du nichts bewirken?“ hatten viele der älteren Oppositionellen die tunesische Bloggerszene immer wieder kritisiert. „Die Erfahrung hat mich das Gegenteil gelehrt“, hält Ben Mhenni in ihrem Buch „Vernetzt Euch!“ dagegen. „Das Netz ist so mächtig, weil es unmittelbar reagieren und unbegrenzt viele Menschen miteinander verbinden kann“, schreibt sie. Alle Tunesier hätten auf diese Art an entscheidend an der Revolution teilnehmen können. „Keiner war ihr Anführer, aber alle haben sie auf die eine oder andere Weise angeführt“, resümiert sie ihre Erfahrung und damit die einer ganzen Generation.

Es war die erste Revolution des arabischen Frühlings. Nur ein Monat später sollte nach wochenlanger Besetzung des Tahrir Square in Kairo der Sturz des ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak folgen. Der Ruf der Tunesier „El Chaab Yourid Isqat Enidam“- „Das Volk will den Sturz des Regimes“ – hallte fortan durch die gesamten arabischen Welt. Wieder spielte Facebook und Twitter eine wichtige Rolle. „Du klickt einmal und liesst, du klickst wieder und liest, du klickst zum dritten Mal, schaltest den Computer aus und gehst hinunter auf die Straße“, beschreibt ein Youtube-Video die Dynamik der Proteste.

„Sie repräsentieren uns nicht!“

Auch der Spanier Fabio Gándara schwört auf die sozialen Netzwerke im Internet als „Instrument für digitale, horizontale Bewegungen“. Es ist der 16. Mai 2011, als Gándara Rede und Antwort steht. Er ist noch immer völlig überrascht, angesichts des Erfolges der Mobilisierung am Vortag gegen Korruption, ungerechtes Wahlsystem und Jugendarbeitslosigkeit auf Facebook, zu deren Initiatoren er gehört. 130.000 Menschen in ganz Spanien – die Hälfte davon in Madrid – waren dem Aufruf für eine „Echte Demokratie jetzt!“ (4) gefolgt. In der Hauptstadt blieben anschließend mehrere Hundert die Nacht über auf dem zentralen Platz Puerta del Sol. Die Polizei räumte. Dank Twitter und Facebook kamen daraufhin 30.000 zusammen. „Tahrir Square – Puerta del Sol“ stand auf einem Schild, dass ein junger Mann hochhielt. Es war der Beginn von #acampadasol, dem Protestcamp das zum Vorbild für Dutzende Städte in ganz Spanien – und selbst für Spaniern im Ausland – werden sollte (5). #spanishrevolution taufte Twitter die Bewegung.

„Vor drei Monate waren wir gerade einmal 15 Mitglieder auf unserer Facebookseite“, berichtet Gándara. „Die Wenigsten kannten sich persönlich. Wir waren auf allerlei Seiten mit sozialen und politischen Inhalten unterwegs“, erzählt Gándara. Er hat kurze Haare, einen ordentlich gestutzten Bart, trägt Hemd und eine gebügelte Hose. Wer dem 26-Jährige aus Madrid zufällig begegnet, käme nie auf die Idee, das er einer der Väter der Bewegung „Echte Demokratie jetzt!“ ist. Gándara ist redegewandt. Er analysiert die Politik zur Krisenbewältigung, beschwert sich über die Korruption und die Jugendarbeitslosigkeit von mehr als 40 Prozent in Spanien. Er kritisiert die politische Klasse. „In der neoliberalen Wirtschaftspolitik, sind sich die beiden großen Parteien Spaniens einig“, sagt er. „Es wäre durchaus möglich die Krise sozial gerechter zu bewältigen“, gibt er zu bedenken und redet von Steuern auf Börsengeschäfte und Finanztransaktionen. Doch die Politik sei „in den Händen der internationalen Märkte“.

„Wir wollen eine partizipative Demokratie. Längst werden Steuern per Internet eingetrieben, warum können die Bürger wichtige Entscheidungen nicht selbst per online-Debatten und –Abstimmungen treffen?“ fragt Gándara. „Es geht hier nicht um links oder rechts, nicht um oben oder unten, es geht um den gesunden Menschenverstand“, endet er.

Gándara ist jung, arbeitslos und hat einen Hochschulabschluss in Jura. Er ist damit der typische „Empörte“, wie sich die Demonstranten schon bald nennen sollten. Oder um es mit einem ihrer Slogans auszudrücken: „Jugend ohne Wohnung, ohne Job, ohne Angst.“

Wie In Tunesien und Ägypten waren es wieder die gut ausgebildeten Jugendlichen, die nicht länger zuschauen wollten und konnten, wie sie jeder Zukunft beraubt werden. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt in Spanien bei über 40 Prozent. Wer einen Job hat, wird selbst mit allerbester Ausbildung meist so schlecht bezahlt, dass ein Leben mit echter Perspektive unmöglich ist. Die Lage verschärft sich seit dem Ausbruch der Finanzkrise dramatisch.

Egal ob Regierung oder Opposition, die Rezepte zur Krisenbewältigung gleichen sich. Die Verluste der Banken werden in Form von Kürzungen verstaatlicht, während sie ihre Gewinne selbst einstreichen. Milliarden fließen aus den Staatskassen in den Finanzsektor. Dieser dankt es mit immer neuen Herabstufungen der Kreditwürdigkeit der einzelnen Länder. Weitere Kürzungen sind die Folge. Die wirtschaftliche Krise hat sich längst zu einer politischen Krise ausgewachsen. „Sie repräsentieren uns nicht“ lautet die wohl am meisten gerufene Parole in Madrid.

„Wir sind die 99%!“

„Es waren vor allem die Bilder aus Tunesien und Kairo, die ich im Kopf hatte. Aus Spanien kamen nur wenige Nachrichten hier an“, erinnert sich Linda Zamora. Es war am 9. Oktober“ als die 43-jährige Frau aus Orange County in Kalifornien einem Aufruf zur Solidarität mit #occupywallstreet (6) folgt. Die Amerikanerin mexikanischer Abstammung fuhr nach Long Beach, einem Küstenort im Großraum von Los Angeles.(7)

Wie im Herzen der Finanzwelt, in der New Yorker Wallstreet, wo drei Wochen zuvor eine Protestcamp errichtet worden war, trugen sie Transparente mit der Aufschrift „Wir sind die 99%!“. #occupytogether (8) tauften sie Protestbewegung, die sich schnell über die gesamte USA ausweiten sollte. „Vom arabischen Frühling zum amerikanischen Herbst“ verkündete ein Plakat. Es stellte die US-Proteste gegen die Banken und die Krisenpolitik in eine Reihe mit den Revolutionen in der arabischen Welt, den Protesten in Madrid, die Bewegung gegen den Bahnhof in Stuttgart oder für mehr Sozialpolitik in Tel Aviv stellte.


„Frust und Ohnmacht“, bringt Zamora all diese Bewegungen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Die Kalifornierin, die noch 2008 für die Demokratische Partei zur Schulaufsicht in ihrem Wohnort kandidierte und den Wahlkampf von Präsident Barack Obama unterstützte, hat den Glauben in die Politik völlig verloren: „Schluss mit den falschen Demokratien, die alle wirtschaftliche Macht den Banken überlassen“, schimpft sie. „Es ist eine Diktatur, die die öffentliche Meinung einfach übergeht.“ Die Lösung: „Die Neuverteilung des Reichtums.“

In Long Beach stieß Zamora zu einem bunten Haufen von rund 200 Menschen. „Ich hatte endlich das Gefühl nicht mehr alleine zu sein“, beschreibt sie die Erfahrung. „Über Politik zu reden ist in den USA ein Tabu. Den meisten fehlt jedwede Information über politische und soziale Themen. Es ist so, als stände es uns nicht zu, uns Gedanken zu machen, wie wir die Situation in den Griff bekommen können“, beschreibt Zamora worunter sie am meisten leidet, seit es mit der Wirtschaft in den USA bergab geht.

„Wir haben so lange geschweigen, dass es aussah als seien wir völlig verblödet!“ stand auf dem selbstgemalten Pappschild, das Zamora an jenem Tag in Long Beach trug. „Viele derer, die das Protestcamp errichteten, waren sehr jung. Sie haben einen Uni-Abschluss in der Tasche. Doch der Traum von einer besseren Zukunft ist für sie zum Alptraum geworden. Sie sind arbeitslos und Dank des Studienkredit hochverschuldet, leben bei den Eltern und haben keinerlei Zukunft“, charakterisiert Zamora die Protestierenden. Eine Beschreibung die so oder so ähnlich auf die meisten jungen Menschen von Tunis über Madrid, Tel Aviv bis eben in die USA zutrifft.

Es ist wieder das Internet, das die Mobilisierung zum Erfolg werden lässt. „Ohne das Netz wäre all das nicht möglich. Bilder, Aufrufe, Nachrichten werden über das Netz verbreitet. Ich selbst stehe mit Menschen aus verschiedenen Städten in Verbindung und bekomme so ständig mit, was dort diskutiert und was für Aktionen dort geplant werden“, sagt Zamora.

„Wir gehen langsam, aber wir werden weit gehen!“

Als ich Lina Ben Mhenni bei meiner letzten Nordafrikareise zufällig in Tunis traf, demonstrierte sie für Meinungsfreiheit und gegen den zunehmenden Einfluss der Islamisten, die bei den ersten freien Parlamentswahlen zur stärksten Partei wurden. Ein Blick auf ihren Blog und in ihr Facebook zeugen von pausenloser Aktivität. Ob gegen Rassismus, für eine bessere Bildungspolitik oder einem Camp vor dem Parlament, dass die Arbeit der verfassungsgebenden Versammlung beobachtet, um den drohenden Einfluss der religiösen Fundamentalisten in die Schranken zu weißen, Ben Mhenni ist immer dabei. „Ein Revolutionär tritt nie zurück“, stand auf dem Schild, das sie bei der Demonstration in die Höhe hielt.

„Die Menschen haben sich dank unserer Proteste wesentlich mehr mit den Problemen und den möglichen Antworten darauf beschäftigt“, ist sich Fabio Gándara sicher. Die basisdemokratische Erfahrung der Empörten habe andere soziale Protestbewegungen gegen Sozialabbau und auch neue, kleine Parteien beeinflusst. Trotz des Sieges der Konservativen bei den spanischen Parlamentswahlen Ende November, ist er optimistisch. „Die Mobilisierungen gehen weiter.“ Die Bewegung der Empörten hat in ganz Spanien Stadtteilstrukturen aufgebaut. Die Facebookseite von „Echte Demokratie jetzt!“, mit der in Spanien alles begann, hat mittlerweile über 420.000 Mitglieder.

„Die Dinge verändern sich nicht von heute auf morgen“, erklärt Linda Zamora, die seit jenem Tag in Long Beach nicht mehr ruht. „Über die Bewegung wird breit berichtet. Viele Menschen sind sich darüber bewusst geworden, was mit ihnen geschieht. Viele hat die Bewegung ‚dazu gezwungen‘ zu Themen Stellung zu nehmen, die wir entweder aus Bequemlichkeit oder weil es unbequem ist, gerne verdrängen würden. Ich hoffe von ganzem Herzen, dass dies nur der Anfang ist.“/Zuerst erschienen bei: INDES

(1)http://atunisiangirl.blogspot.com
(2)“Vernetzt Euch!“ – Lina Ben Mhenni, Ullstein, Berlin, 2011.
(3)http://globalvoicesonline.org
(4)http://www.facebook.com/democraciarealya
(5)http://tomalaplaza.net/
(6)http://occupywallstreet.org/ und http://occupywallst.org/(7)http://occupylb.org/
(8)http://www.occupytogether.org/

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