© 2012 Reiner Wandler

Den Opfern eine Stimme

„75 Jahre lang hat die Welt weggeschaut“, beschwert sich Olga Alcega, Sprecherin der Hingerichteten und Verschwundenen im nordspanischen Navarra. Sie trat am Montag vor dem Obersten Gerichtshof Spaniens, dem Tribunal Supremo, in den Zeugenstand, um zu gunsten von Richter Baltasar Garzón auszusagen. Der Starermittler, der einst durch seinen internationalen Haftbefehl gegen den mittlerweile verstorbenen chilenischen Diktator Augusto Pinochet international bekannt wurde, sieht sich seit Anfang des Monats dem Vorwurf der Rechtsbeugung ausgesetzt. Ihm drohen 20 Jahre Berufsverbot, weil er sich trotz eines Amnestiegesetzes der Verbrechen der spanischen Diktatur unter Generals Francisco Franco annahm, darunter die Anzeige von Olga Alcega, deren Großvater 1936 verschwunden ist.

Gebrochene Stimmen, Tränen, harte Angriffe auf die spanische Justiz … es ist paradox, ausgerechnet, das Verfahren, das die Türen der Gerichte für immer für die Opfer schließen soll, verleiht ihnen eine Stimme. Manche suchen wie Alcega ihren Großvater, andere eine Großmutter, einen Vater, einen Onkel. Die Geschichten gleichen sich.

„Ich möchte keine Rache. Ich möchte die Wahrheit wissen“, sagt die sichtlich bewegte Alcega. Ihr Großvater, Postbote, wurde zu Beginn des spanischen Bürgerkrieges 1936 von den neuen faschistischen Machthabern seines Heimatortes entlassen und verschwand kurz darauf für immer. „3.452 Personen verschwanden und sind noch immer verschwunden“, erklärt Alcega vor Gericht, was damals in der Provinz Navarra passierte. In ganz Spanien sind es mindestens 112.000, so das unter Zwang höherer Instanzen abgebrochene Ermittlungsverfahren von Garzón.

Die Opfer beschuldigen das Tribunal Supremo, ihnen jedwede Unterstützung zu verweigern. Genau dieser Straffreiheit für die Täter wollte Garzón ein Ende bereiten, als er Dezember 2006 die Anzeigen von 500 Angehörigen von Verschwundenen entgegennahm. „Sie erzählten Vorfälle während des Krieges und danach, von der Eliminierung von Personen, Verschwindenlassen, illegale Beisetzungen, Entführungen von Kindern und Folter … Vorfälle, die nach einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit ausschauen“, verteidigt Richter Garzón in seiner Anhörung als Beschuldigter, warum er ermittelte. Die Täter seien einem „systematischen Plan“ gefolgt. „Ich habe gemacht, was ich tun musste, ohne dabei auf Ideologien Rücksicht zu nehmen“, fügt er hinzu.

Am Dienstag kamen zum letzten Mal Angehörige von Opfern des Franquismus zu Wort. Die Anwälte Garzóns wollen, dass das Gericht danach Gutachten internationaler Rechtswissenschaftler, die Garzón Theorie, dass es sich bei der Säuberungswelle in Ende der 1930er und den 1940er Jahren in Spanien um ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelte und solche weder verjähren noch amnestierbar sind, analysiert. Ob diesem Antrag stattgegeben wird, ist zweifelhaft. Wird er abgelehnt, könnte das Verfahren noch diese Woche zu Ende gehen.

Wann das Urteil ergeht, weiß niemand zu sagen. Ein erstes Verfahren gegen Garzón wegen angeblicher illegaler Abhörmaßnahmen gegen Anwälte eines Korruptionsnetzwerkes aus dem Umfeld der regierenden Partido Popular wurde vor zwei ein halb Wochen beendet. Das Urteil lässt noch immer auf sich warten.

Was bisher geschah: