© 2011 Reiner Wandler

Zurück zu den Wurzeln

Yahmed Slimen blüht sichtlich auf, sobald er durch die niedrige Holztür den schmalen, kühlen Gang betritt. „Willkommen im Ksar Lalut“ – der Burg von Nalut – sagt er. „Hier spüre ich mein Wurzeln, hier fühle ich mich zu Hause“, sagt der kleine bärtige Mann, atmet tief durch und blickt das enge Gewölbe entlang. Das Tausend Jahre alte Bauwerk liegt auf einem Berg in West-Libyen, unweit der Grenze zu Tunesien. „Hier kam ich die ganzen Jahre unter Gaddafi immer wieder her“, erzählt der 43-jährige Volksschullehrer. Das Ksar wurde von den Berberstämmen, den Amazigh, was übersetzt so viel wie „freies Volk“ bedeutet, errichtet. Ihnen gilt es als Symbol ihrer kulturellen Eigenheit, mit eigenen Bräuchen und einer uralten Sprache, dem Tamazight.

„Damals unter Gaddafi stellte mir die Polizei selbst hier oben nach“, erinnert sich Slimen. „Damals“, das ist gerade einmal acht Monate her. Nalut, die 30.000 Einwohner zählende neue Stadt neben der Burg und den Ruinen des alten Lalut, befreite sich am ersten Tag der Proteste gegen den Diktator, am 17. Februar 2011. Trotz schwerer Belagerung und Granatenbeschuss konnten die Truppen von Oberst Muammar al-Gaddafis die Stadt nicht wieder einnehmen. Im Mai verjagten die Menschen die Truppen schließlich ganz aus ihren Nafousa-Bergen. Verlassene Panzer rings um die Stadt lassen erahnen, was sie hier erlitten haben. „Danke Nato, ihr habt uns das Leben gerettet!“ steht an einer Mauer der Hauptkreuzung.

„Es ist ein Gefühl der Freiheit, wie ich es nie gekannt habe“, sagt Slimen und rückt sich dabei seinen gelb-grün-blauen Schal zurecht. Es sind die Farben der Amazigh-Kultur. Slimen hat sie als einer der wenigen all die Jahre über offen verteidigt. Die Polizei bewachte ihn dafür rund um die Uhr, Kollegen auf der Arbeit waren angehalten ihn zu bespitzeln, er wurde des öfteren abgeholt und stundenlang verhört. „Gaddafi wollte unsere Kultur und Sprache auslöschen“, sagt Slimen.

Mit 15 Jahren, als Gymnasiast, sei ihm dies klar geworden. Damals wurde seine Schule umbenannt. Zuerst hieß sie Khalifa Ben Askar – nach dem örtlichen Berberfürsten, der die Bevölkerung der Region gegen die italienischen Kolonialherren in den Krieg geführt hatte. „Fortan hieß das Gymnasium Arabische Einheit und ein Kino wurde nach Ben Askar benannt“, beschreibt Slimen, was er als „unglaubliche Provokation“ empfand.

1996, mit 28 Jahren gründete er zusammen mit rund 20 anderen aus der Stadt ein Kulturkomitee. Es wurde nie zugelassen, die Mitglieder verfolgt. „Gleichzeitig siedelte Gaddafi arabischsprachige Libyer an, um unsere Kultur in Bedrängnis zu bringen und Konflikte zu schüren. Es wurde uns sogar verboten den Kindern Namen in unserer Sprache zu geben“, berichtet Slimen mit ernster Mine. Das Namensverbot wurde erst 2004 gelockert. Fünf der sieben Kinder Slimens haben deshalb arabische Namen.

Doch das war „damals“. „Jetzt blüht unsere Kultur wieder auf“, berichtet Slimen. Er selbst hat nach dem 17. Februar einen neuen Kulturverein gegründet. Dieser will eine Sprachschule errichten, um den Menschen Lesen und Schreiben in Tamazight beizubringen. Und er kümmert sich natürlich um Slimens Allerheiligstes, die Burg. Sein Traum: Das Bauwerk zur Touristenattraktion werden zu lassen, wie die Ksar im benachbarten Tunesien.

Viel hat sich geändert in Nalut. Im ehemaligen Hauptquartier der Geheimpolizei sitzt Mohamed Abdel am Schreibtisch des einstigen Kommandanten. Der 36-jährige Tontechniker des ehemaligen Staatsrundfunk, der sich zwecks besserer Abstimmung der Propaganda mit der Geheimpolizei das Gebäude teilte, nennt sich heute stolz „Direktor des Radio Freies Nalut“. „Wir senden seit dem 17. Februar auf unserer Sprache“, sagt er. „Zur Zeit kann man uns nur in Nalut auf UKW hören, doch wir wollen in ganz West-Libyen senden.“ 1,5 Millionen Berber zählt der Weltkongress der Amazigh, dem seit dem letzten Treffen Anfang Oktober in Tunesien ein Libyer vorsteht, unter den fünf Millionen Libyern. In Nordafrika von den Kanarischen Inseln, über Marokko, Algerien, Tunesien bis hin zu Libyen und Ägypten sind es insgesamt über 45 Millionen.


Die Assimilierungspolitik Libyen habe – so Abdal – lange vor Gaddafi begonnen. „Auch unter König Driss war dies schon so“, sagt er. Mit wenig Erfolg: Zwar sprechen alle hier perfekt arabisch, doch nur mit Auswärtigen: „Wir haben unsere Sprache nie aufgegeben.“ Das Radio sei wichtig, da kaum jemand das Tamazight-Alphabet beherrsche. Zwar wurden unter Gaddafi immer wieder solche Buchstaben an die Wände gemalt. „Aber das hatte nur Symbolwert, es waren keine Parolen im eigentlichen Sinne“, berichtet Abdal.

Vor dem Problem des Alphabets steht auch Hedi Bourgueg. Der 20-jährige Jurastudent macht nicht nur Radio, er arbeitet bei einer der drei mittlerweile entstandenen Zeitungen in Nalut mit. „Tziri n Lalut“ – „Die Sonnen von Nalut“ – heißt das achtseitige Blatt im DIN-A-4-Format. Nur eine halbe Seite ist im Berberalphabet geschrieben. „Der Rest ist in Tamazight aber mit arabischen Schriftzeichen. Nach und nach werden wir umstellen, sobald die Leute das Alphabet gelernt haben“, sagt er. Neben Aktuellem aus Nalut und Tripolis berichtet die „Sonne“ auch von neuen Musikgruppen, die entstehen und sich auf die eigene Sprache besinnen.

Bourgueg ist in nur wenigen Monaten zum Aktivisten der Berberkultur herangewachsen. „Ich war auf dem nationalen Berberkongress im September in Tripolis“, erzählt er. Es war bereits das sechste Treffen dieser Art, aber das erste im Inland. Organisiert hat die Teilnahme von Bourgueg und anderen Jungen aus Nalut, Slimen. „Ich selbst war nicht dort, es braucht neue Leute“, sagt der Lehrer bescheiden und berichtet dann von dem, was auf dem Treffen herauskam. „Es geht uns nicht um politische Autonomie, das libysche Volk ist ein Volk“, weißt er ungefragt die oft erhobene Anschuldigung des Separatismus von sich. „Wir wollen, dass unsere Sprache und Kultur in der künftigen Verfassung anerkannt wird“, denn „eigentlich sind alle Libyer Amazigh, auch wenn sie ihre Sprache und Kultur über die Jahrhunderte verloren haben.“

Was bisher geschah: