© 2011 Reiner Wandler

Tunesien schaut nach vorn

Das neue politische Panorama Tunesiens stand bereits am Dienstag früh in allen Zeitungen zu lesen, auch wenn das offizielle Wahlergebnis noch auf sich warten lässt: Die islamistische Ennahda ist mit rund einem Drittel der Stimmen Wahlsieger, gefolgt von der sozialdemokratischen Ettakatol und dem ebenfalls links von der Mitte angesiedelten Kongreß für die Republik (CPR). Die Parteien ziehen Bilanz aus den ersten freien Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung und bereiten die neue Etappe des Landes vor.

„Wir haben ein mehr als 60-köpfiges Team, das in allen Wahllokalen die dort veröffentlichten Ergebnisse eingeholt hat“, erklärt der Wahlkampfleiter der islamistischen Ennahda, Abdelhamid Jlassi, bevor er seine Formation am Montag Abend zum Wahlsieger erklärte. „Ennahda hat in allen Wahlkreisen gewonnen. Wir haben mehr als 30 Prozent der Stimmen und auch der Sitze in der neuen Verfassunggebenden Versammlung. Es werden nur fünf oder sechs Parteien und ein paar Unabhängige im neuen Parlament vertreten sein“, fasste er das Ergebnis zusammen. Genauere Zahlen wollte er nicht geben, um der Unabhängigen Wahlbehörde ISIE „nicht vorzugreifen“. Diese kündigte das offizielle Endergebnis für Dienstag Abend an.

Die anderen Parteien verfuhren ähnlich. Auch sie zählten vor Ort aus. Hinter Ennahda liegen demnach die sozialdemokratische Ettakatol des betagten Oppositionellen und Arztes Mustapha Ben Jaafar sowie der Kongress für die Republik (CPR) des aus dem französischen Exil zurückgekehrten Menschenrechtlers und Universitätsprofessors Moncef Marzouki. Die beide Parteien haben nach eigenen Angaben zwischen 15 und 18 Prozent der Stimmen erhalten. Wer von den beiden bei der Verteilung der insgesamt 217 Abgeordneten schließlich auf Platz 2 liegen wird, muss das offizielle Endergebnis zeigen.

Die große Überraschung der Wahl vom Sonntag ist das Scheitern der Demokratischen Fortschrittspartei (PDP) von Generalsekretärin Maya Jribi und Parteigründer Néjib Chebbi. Chebbi, einer der bekanntesten Vertreter der unter Ben Ali geduldeten Opposition, gesteht ein, dass seine Partei nur rund zehn Prozent der Stimmen erhalten hat. „Das Volk hat es so gewollt“, erklärte er resigniert. Er ging davon aus hinter Ennahda auf Platz 2 zu kommen. „Wir werden weiterhin für ein modernes Tunesien eintreten“, versicherte er und gab an, den Platz seiner Partei in der Opposition zu sehen.

Die Schuld am schlechten Abschneiden liegt wohl bei Chebbi selbst. Er gilt als machthungrig. Als Präsident Zine el-Abidine Ben Ali am Vorabend seiner Flucht nach Saudi Arabien in einer Fernsehansprache eine zaghafte Öffnung ankündigte, lobte Chebbi dies wenig später in einem Interview auf dem französischen Satelliten-TV France24 und erklärte sich grundsätzlich bereit in eine breitere Regierung unter Ben Ali mitzuarbeiten. Die Tunesier, die am nächsten Tag erneut auf die Straße gingen und Ben Ali stürzten, haben dies – das zeigt das Ergebnis – Chebbi nie verziehen. Außerdem wurde Chebbis Auftreten bei Fernsehinterviews während des Wahlkampfes von den Tunesiern als autoritär und arrogant empfunden. Nach 23 Jahren Diktatur verwandelt sich ein solches Urteil schnell in das Ende einer politischen Karriere.

Enttäuschung auch beim Demokratisch Modernistischen Pol, einem Bündnis kleiner Parteien und unabhängiger Gruppierungen rund um die postkommunistische Ettajdid von Ahmed Brahim. Diese Formation liegt mit 5 bis 7 Prozent der Stimmen noch hinter der PDP. Auch das ist eine deutliche Niederlage für ein Projekt, das antrat, die Linke, moderne Frauen und die rebellische Jugend zu mobilisieren.

Die frisch gewählte Verfassungsgebenden Versammlung soll in nur spätestens einem Jahr das Grundgesetz für die Nach-Ben-Ali-Ära ausarbeiten. Als einzig legitime, vom Volk gewählten Institution wird sie die künftige provisorische Regierung und den Staatschef bestimmen. Diese bleiben ebenso wie die Versammlung nur solange im Amt, bis die Verfassung geschrieben ist. Spätestens in einem Jahr soll es soweit sein. Dann wird wieder gewählt. Ob der Verfassungstext selbst einem Referendum unterzogen wird, steht noch nicht fest.

„Wir müssen sehr schnell zur Stabilität zurückfinden und gute Bedingungen für die Investoren schaffen“, erklärte Ennahda-Wahlkampfleiter Abdelhamid Jlassi auf der Pressekonferenz vom Montag Abend und forderte alle Parteien auf, dabei mitzuhelfen. Die Islamisten streben eine Regierung der Nationalen Einheit an. „Wir sind bereit ein Bündnis mit der CPR von Moncef Marzouki und Ettakatol von Mustapha Ben Jaafar einzugehen. Ihre Positionen sind von den unseren nicht so weit entfernt und beide Parteien haben viele Stimmen erhalten“, erklärt das Ennahda- Vorstandsmitglied Ali Larayd.

Das Angebot an Ettakatol – Mitglied in der Sozialistischen Internationalen – kommt nicht wirklich überraschend. Partei-Chef Ben Jaafar hat im Wahlkampf – anders als etwa die PDP – allzu große Kritik an den Islamisten vermieden. Jaafar wird seit Wochen von verschiedenen tunesischen Medien als möglicher Präsident für die Übergangszeit gesehen. Er sei der Lieblingskandidat der französischen und us-amerikanischen Diplomatie, heißt es immer wieder.

Was bisher geschah: