© 2011 Reiner Wandler

"La Tunisie" ist weiblich

„Ich heulte nicht, ich schaute dem Polizisten einfach in die Augen“, erinnert sich Marwa Rekik an den Tag, als sie auf der Hauptstraße von Tunis, der Avenue Habib Bourguiba, zuerst zusammengeschlagen, dann an den Haaren mehrere hundert Meter bis zu einem Mannschaftswagen gezerrt wurde, um sie dort festzuhalten, zu bedrohen und zu beschimpfen. Blutüberströmt saß die Reporterin des tunesischen, oppositionellen Internetradios Kalima da. Ein Polizist setzte sich neben die zierliche Frau, warf ihr wüste Worte entgegen. „Dann wollte er immer wieder wissen, warum ich auf die Demos gehe, warum ich für Kalima berichte“, erinnert sich Marwa. „Weil ich ich Tunesien liebe, weil mein Tunesien lebt und eures tot ist. Ich verachte Euch und mit Euch das ganze Regime“, gab sie zur Antwort, starr, gefasst, ohne eine Gefühlsregung zu zeigen. Schließlich wurde sie freigelassen, die Platzwunde am Kopf musste mit fünf Stichen genäht werden.


Das war im Mai, vier Monate nach dem Sturz des Präsidenten Zine el-Abidine Ben Alis auf einer Demonstration, die zum Rücktritt der Übergangsregierung aus alten Parteigängern der Diktatur führte. „Es war das einzige Mal, dass ich in all den Jahren von der Polizei so angegangen worden bin“ erinnert sich die 25-Jährige. Sie sitzt im Straßencafe neben dem Stadttheater der Hauptstadt Tunis und zieht wenige Tage vor den ersten freien Wahlen am kommenden Sonntag den 23. Oktober Resümee über ihr junges und dennoch intensives Leben.

Marwa Rekik ist 25 Jahre alt. Sie gehört damit zu der Generation, die fast ihr ganzes Leben unter der Diktatur von Ben Ali verbrachte. Und sie gehört zu denen, die seiner Herrschaft nach 23 Jahren, am 14. Januar 2011, ein Ende bereitete. „Es war die Revolution der jungen Menschen und es war die Revolution der jungen Frauen“, sagt Rekik selbstsicher. Den vorsichtigen Blick über die Schulter hat sie sich abgewöhnt. Zwar sei noch immer Zivilpolizei im Stadtzentrum unterwegs, aber die Angst ist weg.

„Ich habe schon auf dem Gymnasium meinen Respekt vor der Diktatur verloren“, erinnert sich Rekik. Das System war damals überall präsent. „Ich machte beim Schulradio mit und wurde schließlich Chefredakteurin“, erzählt sie aus ihre Zeit in Sfax, der zweitgrößten Stadt Tunesien, wo sie aufgewachsen ist. Als Verantwortliche des Schulradios viel ihr „die große Ehre“zu, am Jahrestag der Machtübernahme durch Ben Ali, „am 7. November die vom Bildungsministerium verfasste Grußbotschaft an den Präsidenten im Namen der Schüler über die Lautsprecheranlage zu verlesen und patriotische Gesänge abzuspielen“. „Ich hielt das nicht aus“, erzählt die junge Frau. Die ersten Jahre drückte sie sich, meldete sich einfach krank. In der Abiturklasse dann weigerte sie sich. Erstmals sprach sie offen aus, was sie vom Regime hielt. Der Direktor war entsetzt. „So redet man nicht“, schimpfte er und gab ihr den Ratschlag mit auf den Weg, „meine Haltung zu überdenken“.

Es nutzt nichts. Rekik ging zum Studieren nach Tunis an die Filmhochschule. „Das war meine persönliche Explosion“, erinnert sie sich. Schnell hatte sie Kontakt zu der oppositionellen Studentengewerkschaft UGET, trat vorübergehend der geduldeten, oppositionellen Demokratischen Fortschrittspartei (PDP) bei und lernte 2008 die Bürgerrechtlerin Sihem Bensidrine – „eine „wirklich mutige Frau“ – kennen. Sie begann als Straßenreporterin in deren Internetradio Kalima, die einzige diskrepante Stimme im Reich Ben Alis.

„Die Polizei verfolgte mich auf Schritt und Tritt. Schließlich drohte man mir, dass ich meinen Abschluss an der Hochschule nicht machen könne.“ Rekik legte eine Pause ein. Statt auf der Straße nach Themen für das Radio zu suchen, begann sie mit Dokumentarfilmen über kritische Geister Tunesiens und stellte die Kurzfilme – gedreht mit der Ausrüstung der Hochschule – auf Festivals vor. „Den letzten von drei Filmen haben wir nie fertiggestellt“, erzählt sie.

Es war Anfang Januar 2011. Mitten in den Dreharbeiten begannen die Demonstrationen gegen Ben Ali auch in Tunis. „Das ganze Team war nur noch auf der Straße“, erinnert sie sich. Als der Diktator nach Saudi Arabien floh, kam bei Kalima plötzlich die Idee auf, den Sender auszubauen, auf UKW zu gehen. „Ich war sofort wieder dabei“, sagt Rekik, die mittlerweile ein eigenen Programm hat.

Es ist eine kritische Presseschau. Sie berichtet über das Neueste aus Tunesien und aller Welt, stellt Facebookseiten vor und lädt Interviewpartner aller Couleur ein, „auch solche, die fest hinter dem Regime standen“. In die Parteienlandschaft will sich Rekik auch jetzt nach der Revolution und vor den Wahlen nicht einmischen. Sie sieht ihren Ort weiterhin in der Zivilgesellschaft. „Im Radio kann ich so frei reden, wie sonst nirgends“, sagt sie.

„Es sind Frauen wie Marwa, die dieses Land so besonders machen“, ist sich Nejiba Bakhtri sicher. Die 62-jährige Sportlehrerin ist schon ihr ganzes Leben lang in der Gewerkschaft UGTT aktiv. Dort betreut sie auch jetzt nach der Pensionierung noch die Lehrer der Mittel- und Oberstufe in Tunis. „Die UGTT war einer der wenigen Freiräume im Regime“, sagt die kleine, kräftige Frau, die nach einem Ausflug in die Welt der Parteien, erst war sie bei der PDP, dann gründete sie „als engagierte Ökologistin“ in der Illegalität die Grüne Partei Tunesien mit – sich wieder ganz der Gewerkschaftsarbeit widmet.


Nejiba Bakhtri lernte Marwa Rekik in deren Phase als Filmproduzentin kennen. „Grün Orange“ heißt die kurze Reportage, die Rekik ihr gewidmet hat. Wer Bakhtri in ihrem Haus in Hammam-Lif, 20 Autominuten südlich der Hauptstadt, besucht, weiß warum. Alles steht voller Pflanzen, die Türrahmen, die Wände und große Teile der Wohnungseinrichtung sind orange gestrichen. „Mein kleines Paradies“, sagt die geschiedene Frau stolz. Hierher zieht sie sich zurück, wenn ihr dort draußen alles zu viel wird. Das kommt oft vor. „Denn als Frau musst du ständig gegen den Machismus ankämpfen. Doch wir tunesischen Frauen sind stark und dominant“, sagt sie bei Kaffee und Zigarette am kleinen Tischchen mitten in ihrem kleinen botanischen Innenhof.

Für Marwa Rekik ist Nejiba Bakhtri ein Vorbild, so etwas wie die politische Mutter. Sie gehört zu der Generation, die nach der Unabhängigkeit ihres Landes 1956 aufgewachsen sind. „Wir waren die erste Generation von Frauen, die freien Zugang zu Schulen und Universitäten hatte“, sagt sie. Der erste Präsident des freien Tunesiens, Habib Bourguiba, hatte Gesetze erlassen, die die Frau rechtlich mit dem Mann gleichstellte. Es war ein Novum in der arabischen Welt. In den Nachbarländern Algerien und Marokko ist dies bis heute nicht so.

„Aber auch in Tunesien brauchen wir noch mindestens zwei Generationen, bis die Frau tatsächlich völlig gleichgestellt ist, vielleicht sogar Präsidentin werden kann“, sagt Bakhtri. Bei den kommenden Wahlen machen die Frauen einen weiteren wichtigen Schritt. Alle Parteien sind per Gesetz angehalten paritätische Listen aufzustellen.

Dennoch ist Bakhtri angespannt. Sie hat wie viele ihrer Geschlechtsgenossinnen Angst, es könne zurückgehen. Der Grund ist der große Zulauf, den die islamistische Partei Ennahda genießt. Sie wird bei den Wahlen wohl am besten abschneiden. 30 Prozent, 40 Prozent, keiner weiß es zusagen. Meinungsumfragen sind in Tunesien während des Wahlkampfes nicht erlaubt. Zwar reden die Islamisten Ennahdas von den Rechten der Frau, von Gleichstellung, und von Toleranz, doch wie viele befürchtet auch die Gewerkschafterin Bakhtri, dies sei „nur ein doppelter Diskurs, um Stimmen zu gewinnen und die Menschen zu beruhigen“.

„Selbst in meinen Kreisen, in der Gewerkschaft und in den fortschrittlichen Parteien herrscht der doppelte Diskurs. Offiziell sind alle für die Gleichberechtigung, aber mit der Realität hat dies nur wenig zu tun“, sagt sie. Deshalb könne eine traditionellere, islamistische Politik durchaus auf Zustimmung stoßen. „Doch wir sind wachsam, wir werden dagegenhalten“, sagt Bakhtri selbstsicher.

„Die Islamisten sagen immer wieder, dass das Gesetz der persönlichen Freiheiten, dass die Frau gleichstellt, nicht heilig sei“, berichtet Maya Jribi, die Generalsekretärin der PDP, jener Partei, die einst Rekik und auch Bakhtri als Freiraum diente. „Das stimmt natürlich, aber wir werden es nicht zulassen, dass es verändert wird. Unter anderem deshalb bin ich Kandidatin zur verfassunggebenden Versammlung“, fügt Jribi hinzu. Sie ist die einzige Frau, die in Tunesien einer Partei vorsteht. Im gesamten Nordafrika gibt es nur eine weitere, Louisa Hanoune von der Arbeiterpartei in Algerien.


Jribi ist zuversichtlich: „Wer sich umschaut sieht, wir leben in der Ära der Frau. Nicht nur in Tunesien auch in anderen Ländern spielt die Frau bei den Protesten eine wichtige Rolle. Selbst im Jemen. Dort sie sind verschleiert, aber sie gehen auf die Straße“, sagt die 51-Jährige. Ein weiterer Beweis seien die Regierungschefinnen überall auf der Welt. Sie selbst wird es soweit erst einmal nicht bringen. Selbst wenn der PDP so ein wichtiges Amt, oder gar das des Präsidenten zufallen würde, hätte der Parteigründer Vorrang.

Das die Männer auch bei ihrer Partei noch immer mehrheitlich die wichtigen Ämter besetzen und nur drei von insgesamt 33 regionalen Kandidaturen der PDP von Frauen angeführt werden, ist für Jribi „normal“. „Das ist eine Fotokopie der Realität. Die Diktatur hat alle unterdrückt, aber die Frauen ein Stück mehr. Die Frau steht deshalb in der Politik Tunesiens mehrheitlich an zweiter Stelle“, sagt Jribi. „Das ist übrigens nicht nur in der arabischen Welt so“, gibt sie zum Abschied zu bedenken.

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