© 2011 Reiner Wandler

Das erste Mal

„Ich habe das erste Mal in meinem Leben gewählt und dann gleich bei solchen Wahlen“, sagt Hamza Manzour. Sichtlich gerührt kommt der 21-Jährige aus dem Wahllokal in der Cité Ezohour – der Siedlung der Blumen – in Kasserine. Wie zum Beweis hebt er seinen eingefärbten Zeigefinger hoch. Dunkle Tinte soll möglichen Wahlbetrug verhindern.

Seit der Öffnung der Grundschule in einem der ärmeren Viertel der westtunesischen Stadt hat sich wie überall im Lande eine lange Schlange gebildet. Geduldig warten die Menschen, bis sie endlich ihren Stimmzettel in die transparente Urne stecken können. „Es ist ein historischer Tag“, beteuert Manzour, das was alle ständig wiederholen. Tunesien wählt nur neun Monate nach dem Sturz des Diktators Zine el-Abidine Ben Ali am 14. Januar eine Verfassungsgebende Versammlung.

Die dunkeln Augen von Manzour sind feucht. „Mir ging alles wieder durch den Kopf, als ich an der Urne stand“, sagt er. „Alles“, das ist seine Geschichte und die von Kasserine während der Proteste, die zum Sturz des Präsidenten führten. „Vom 8. bis zum 11. Januar war die Stadt völlig von der Aussenwelt abgeriegelt“, berichtet Manzour. Die Jugendlichen gingen Tag für Tag gegen das Regime auf die Straße, nachdem sich in der Nachbarprovinz, in Sidi Bouzid ein junger Gemüsehändler aus Frust über die soziale Lage selbst verbrannt hatte. Die Polizei zog Kräfte aus ganz Südtunesien zusammen. Als alles nichts half, kam der Schießbefehl. Angeblich gab es gar Überlegungen zu Bombadieren. 52 Menschen verloren ihr Leben, über 200 wurden zum Teil schwer verletzt. Manzour war einer von ihnen. Er zeigt die Schusswunde am Halsansatz und die Austrittsstelle am rechten Schulterblatt. „Das war am 11. Januar. Die Polizisten schossen mit Gewehren ganz gezielt, um zu töten“, sagt er. 14 Tage wurde er im Krankenhaus behandelt – fast die gesamte Zeit auf der Intensivstation.

„Wir hatten einfach genug vom schlechten Leben“, erzählt Manzour. Er selbst hat nur einen Hauptschulabschluss. Arbeit gibt es in der 100.000 Einwohnerstadt Kasserine so gut wie keine. Eine Zellulosefabrik ist das einzige große Unternehmen. Einst arbeiteten hier 5.000, heute sind es dank der Rationalisierung gerade noch ein paar Hundert. Als die Demonstrationen begannen, war Manzour wie die meisten jungen Leute aus seinem Stadtteil mit dabei. Viele der Toten kannte er persönlich.

Auch Manzour hatte keine wirkliche Arbeit. Er half seinem Vater im Laden. Doch er hatte einen Traum. Als linker Aussenverteidiger des örtlichen Fußballclubs Future Kasserine hoffte er auf eine Profikarriere, so wie seine Vorbilder beim spanischen Rekordmeister Real Madrid.

„Arbeiten, Sport, das ist seit der Schussverletzung vorbei“, sagt Manzour mit gedämpfter Stimme. „Ich kann nicht mehr schwer lüpfen, die Lungenflügel schmerzen, der Blutdruck ist nur dank starker Medikamenten stabil.“ Die Kugel zerfetzte Blutgefäße im Hals, die das Gehirn versorgen. Manzour ist weiterhin in ärztlicher Behandlung.

Immer wieder muss er in die Klinik in der vier Autostunden entfernten Hauptstadt Tunis. Das und die medizinische Versorgung bestreitet er mit einer kleinen Invalidenrente von umgerechnet 120 Euro im Monat. Ansonsten schlägt er seine Tage auf der Straße oder im Kaffeehaus tot. Facebook und Internet mag er nicht. Wenn überhaupt nutzt er einen Computer um tunesischen Rap, der in der Revolution eine wichtige Rolle spielte, zu hören, oder auf der Suche nach Musik aus den USA: „Zwar verstehe ich die Texte nicht, aber die Rhythmen sind einfach klasse.“

Manzour ist stolz auf den Beitrag von Kasserine zur Revolution. Keine Stadt hat so viele „Märtyrer“, wie seine Heimatstadt, die von jeher als rebellisch gilt. Ob bei Aufständen gegen die französische Kolonialmacht oder bei den Protesten gegen Preiserhöhungen in den 1980ern, Kasserine zahlte immer mit vielen Toten.

„Geändert hat sich seit Januar nur wenig“, beteuert der junge Mann resigniert. Es seien noch immer die gleichen in der Verwaltung, wie schon unter Ben Ali. Arbeitsprogramme gebe es nicht, und die Unterstützung für die Opfer der Repression falle viel zu niedrig aus. Deshalb geht Manzour bis heute auf jede Protestaktion gegen die Jugendarbeitslosigkeit.

Er hofft, dass die Verfassungsgebende Versammlung und die daraus hervorgehende Übergangsregierung, endlich etwas unternimmt. Lange tat er sich bei der Entscheidung, wen er letztendlich wählen wird, schwer: „Ich habe keine Ahnung von Politik. Es treten so viele Parteien an“, fühlt sich Manzour wie viele Tunesier völlig überfordert. Dabei sind es in Kasserine nur 50 Listen, die auf dem Wahlzettel stehen. In anderen Provinzen sind es bis zu 90. „Die Linke gefällt mir nicht“, sagt Manzour. Deren Führer hätten bereits unter Ben Ali als geduldete Opposition Politik gemacht. Das lässt sie in seinen Augen unglaubwürdig werden.

Als er aus dem Wahllokal kommt, berichtet er dann, wem er sein Vertrauen geschenkt hat: Den Islamisten von Ennahda. Die Partei, die aller Voraussicht nach mit großem Abstand zur stärksten Kraft im neuen, weitgefächerten Parlament werden wird, seien immer in der Opposition gewesen. Viele Mitglieder haben dafür mit langen Haftstrafen bezahlt. „Sie respektieren Kasserine, die Märtyrer und die Werte der Religion“, erklärt Manzour stolz auf die erste Wahlentscheidung in seinem jungen, bewegten Leben.

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