© 2011 Reiner Wandler

Der Preisträger: Boualem Sansal

Wer dem diesjährigen Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, Boualem Sansal, gegenübertritt, blickt in das Gesicht eines Überlebenden. „Sirenen, Schüsse, Explosionen, Massaker in den Dörfern rundherum, Autobomben in der Hauptstadt“, beschreibt der französischsprachige Schriftsteller sein Algerien Mitte der 1990er Jahre. Es herrschte Bürgerkrieg zwischen Islamisten und Armee. Die Straßen waren unsicher, die Züge ebenfalls. Der Ingenieur und hohe Beamte im algerischen Industrieministerium blieb abgeschieden von der Aussenwelt, eingeschlossen in seiner Wohnung in Boumerdès, 50 Kilometer außerhalb der Hauptstadt Algier, mitten im Territorium der Tangos, wie die Algerier die radikalen bewaffneten Islamisten nennen.

Sansal begann wie besessen zu schreiben. Das Ergebnis dieses „Exorzismus“ war sein erster Roman „Der Schwur der Barbaren“ (1999) und erhielt dafür den französischen Preis für den Erstlingsroman. Mit 50 Jahren reihte er sich in eine Gruppe von Preisträgern ein, die alle seine Kinder sein könnten.

„Wo die Welt aufhört, fängt Algerien an“, schreibt er. Der Sohn einer alleinerziehenden Mutter wuchs im bis zur Unabhängigkeit multikulturellen und multireligiösen Stadtteil Belcourt in Algier auf – Heimat von Camus, aber auch des Führers der Islamischen Heilsfront (FIS), Abassi Madani.

Sansal nimmt kein Blatt vor den Mund bei seiner Kritik an einem Regime zu dem er sein Leben lang „in kritischer Distanz“ steht. In einem Stil, der an den magischen Realismus Lateinamerikas erinnert, legt er die Finger in alle Wunde seiner Heimat zu gleich. „Der Kampf des algerischen Volkes für seine Unabhängigkeit wurde noch am Tag der Feuereinstellung privatisiert“, wirft er den Generälen vor. Als überzeugter Laizist schreibt er auch gegen den religiösen Wahn: „Glauben zu haben ist für einen Muslim nicht mehr zeitgemäß, man wird nur eingelassen, wenn man neunundneunzig Arten seinen Nächsten zu erwürgen kennt.“

„Seither ist viel Blut den Fluss hinuntergeflossen und Ozeane von Bitterkeit durch die Herzen“, heißt es in einem der zahlreichen Werke, die er mittlerweile veröffentlicht hat. 200.000 Menschen verloren ihr Leben. Im Industrieministerium wurde Sansal gekündigt, denn Sansal gilt als Nestbeschmutzer. Sicher ist es in Boumerdès noch immer nicht. Dennoch lebt der mutige Schriftsteller mit seiner Frau und den beiden erwachsenen Töchtern weiterhin dort und ist damit die große Ausnahme der algerischen Literatur. Denn „heftige Kritik kann man nicht vom Ausland aus üben“, begründete er in jenen heißen Jahren gegenüber der taz diese Entscheidung.

Auf Deutsch sind erhältlich:

„Das verrückte Kind aus dem hohlen Baum“ (2002), „Der Schwur der Barbaren“ (2003), „Erzähl mir vom Paradies“ (2004), „Harraga“ (2007), „Postlagernd: Algier“ (2008), „Das Dorf des Deutschen“ (2010). Alle im Merlin-Verlag.

Was bisher geschah: