© 2011 Reiner Wandler

Quo vadis, Tunisie?

Das Wort „Komplott“ macht die Runde in Tunesien. Etwas mehr als zwei Monate vor den Wahlen zu einer Verfassungsgebenden Versammlung befürchten immer mehr Menschen, die erste arabische Revolution könnte Opfer eines Gegenschlages werden. Gerüchte und Halbwahrheiten verbreiten sich in Windeseile über Facebook und Twitter. Demonstrationen, die schnell in Gewalt enden können, formieren sich innerhalb weniger Stunden auf den Straßen der großen Städte. Die einen befürchten, die Wahlen könnten verschoben werden und das Land so in eine Phase der zunehmenden Instabilität abrutschen. Die anderen verlangen einen späteren Wahltermin, um sich besser auf den Urnengang vorbereiten zu können.

Als erster warnte der im Februar zurückgetretene Innenminister der Übergangsregierung, Farhat Rajhi, vor einer Verschwörung. Vor zwei Wochen veröffentlichten eine Bloggerin die Videoaufzeichnung eines Interviews mit dem als unabhängige geltenden Juristen. „Wenn die Islamisten die Wahlen gewinnen, werden wir ein Militärregime haben“, erklärte er, „die Leute aus dem Sahel“ – der Region um die Küstenorte Sousse und Monastir aus denen Ben Ali und der Vater der Unabhängigkeit Habib Bourguiba kamen – „sind nicht bereit die Macht abzugeben. Falls das Wahlergebnis nicht in ihrem Interesse ist, wird es einen Militärputsch geben.“ Nur wenige Stunden später versammelten sich mehre hundert Jugendliche im Zentrum der Hauptstadt Tunis und forderten den Rücktritt des Übergangspremiers Caid Essebsi.

Die Polizei griff mit ungewöhnlicher Härte ein. Es kam zu Verletzten und Verhaftungen, darunter auch Journalisten und Pressefotografen. In den Vororten wurden Geschäfte geplündert. Mehrere Tage lang wiederholten sich diese Szenen, bis die Regierung erstmals seit dem Sturz Ben Alis wieder eine Ausgangssperre verhängte.

„Ich glaube, dass es tatsächlich ein Komplott gibt“, sagt Omar Mestiri, der Chef des Oppositionsradios Kalima, das bisher mangels UKW-Lizenz nur im Internet sendet. Neben Protesten und Repression führt er auch die fast zeitgleichen Massenausbrüche in fünf Haftanstalten im Lande an. Mestiri sieht den langen Arm der aufgelösten politischen Polizei und fordert die Übergangsregierung auf, „Licht ins Dunkel zu bringen“. Für den kritischen Journalisten sind auch die Plünderungen das Ergebnis einer gezielten Unterwanderung der Demonstrationen.

Die Übergangsregierung sei schwach und habe den Polizeiapparat nicht wirklich unter Kontrolle. Mit ihrem harten Vorgehen der Polizei schütteten die Kommandanten der Sondereinsatzeinheiten zusätzlich Öl ins Feuer. Außerdem fürchtet Mestiri um die Meinungsfreiheit. Die Militärjustiz ermittelt gegen Ex-Innenminister Rajhi wegen „Diffamierung der Armee“, mehrere Internetseiten wurden aus dem gleichen Grund geschlossen.

„Im Hintergrund kämpfen zwei Strömungen miteinander“, analysiert Mustapha Ben Ahmed, zuständig für internationale Beziehungen bei der Gewerkschaft UGTT. „Zum einen sind da die Vertreter der alten Staatspartei RCD. Sie kontrollieren noch immer große Teile der Verwaltung, der Wirtschaft und auch des Sicherheitsapparates. Zum anderen gibt es allerlei populistische Strömungen.“ Die RCD-Vertreter „wollen keine Stabilität im Lande“. Sie hätten Angst im neuen Tunesien völlig übergangen zu werden, „vor allem nach der Entscheidung, sie nicht an den Wahlen teilnehmen zu lassen“, erklärt Ben Ahmed.

Was er „populistische Strömungen“ nennt ist ein Sammelsurium kleinerer Parteien, deren wichtigster Vertreter die Kommunistische Arbeiterpartei (POCT) ist. Ihr Chef, der Literaturprofessor Hamma Hammami, verlangt die Verschiebung der Wahlen auf Oktober, „damit die Parteien Zeit haben, ihr Programm bekannt zu machen und die Bevölkerung tatsächlich ihre Wahl treffen kann“. Es ist keine ganz unbegründete Sorge, die Hammami treibt. Neueste Umfragen zeigen, dass 94 Prozent der Tunesier wählen wollen, aber nur 26 Prozent wissen, wem sie ihre Stimme geben werden.

„Ich halte es für ziemlich unwahrscheinlich, dass die Wahlen tatsächlich wie geplant am 24. Juli stattfinden werden“, sagt Kalima-Chef Mestiri nachdem selbst Premier Essebsi im Fernsehen von „technische Schwierigkeiten“ bei den Vorbereitungen sprach. Mestiri weiß nicht, ob es möglich ist bis Juli tatsächlich transparente Wahlen durchzuführen. Aber eine Verschiebung könne mit einer „nur wenig legitimierten Regierung“ zu weiterer Instabilität führen, und „dazu genutzt werden, den gesamten Wahlprozess für eine Verfassungsgebende Versammlung zum Scheitern zu bringen“, warnt er.

Was bisher geschah: