© 2011 Reiner Wandler

#acampadasol reloaded

 

„Mit der Räumung hat uns die Polizei einen Riesengefallen getan“, sagt Paloma völlig übermüdet aber sichtlich zufrieden. Die 26-jährige, studierte Biologin ist von Anfang an bei den Jugendprotesten dabei, die in Spanien und über Twitter auch weltweit Aufsehen erregen. Am Sonntag war die junge Frau, mit Zehntausenden auf der Demonstration durch Spaniens Hauptstadt unter dem Motto „Democracia Real Ya!“ – „Echte Demokratie jetzt!“ Danach blieb sie mit ein paar Hundert auf dem zentralen Platz Puerta de Sol. In der Nacht auf Dienstag räumte die Polizei. In Windeseile verbreitete sich die Nachricht im Netz. Über 10.000 kamen am Dienstag Abend wieder und es blieben 5.000 über Nacht.

Seither ziert ein improvisiertes Camp mit Sonnendächern, Schreibtischen, Feldküche, Werkstätten und Diskussionszirkeln die Puerta de Sol. Immer wieder kommen ganz normale Bürger vorbei und spenden Lebensmittel, einen Stuhl oder was sie sonst für nützlich halten. „Jetzt können sie uns nicht mehr verjagen“, ist sich Paloma sicher. Das Camp soll bis zu den spanischen Kommunal- und Regionalwahlen am kommenden Sonntag bestehen bleiben.

„Wir haben diese Krise nicht gemacht, aber jetzt sollen wir sie bezahlen“, erklärt Paloma, warum sie dem Aufruf zu den Protesten folgte, als sie im Facebook darauf stieß. Die junge Frau gehört zu dem, was in Spanien die „verlorene Generation“ genannt wird. Seit dem Ende des Baubooms und dem Beginn der Finanzkrise sind in Spanien 20 Prozent ohne Arbeit. Unter den jungen Menschen sind es mehr als doppelt so viele. Paloma, die mit 19 zu Hause auszog, schlägt sich mit „schlecht bezahlten Gelegenheitsjobs und einem Kredit der Eltern“ durch, „bis ich hoffentlich eine Doktorandenstelle in der Forschung finde“. Ob das jemals klappt, sie weiß es nicht zu sagen.

„Es gibt wenige Stellen und viele, die bessere Beziehungen haben, als ich. Wahrscheinlich muss ich ins Ausland gehen, um eine Zukunft zu haben“, sagt sie. Der Satz schmerzt in einem Land, in dem die Großväter und Elterngeneration zu Hunderttausenden als Gastarbeiter in Mittel-, Nordeuropa oder gar in Australien ihr Glück suchen mussten. „Wissen Sie, irgendwie bin ich es meinen Eltern schuldig, hier dabei zu sein. Sie haben gegen eine Diktatur gekämpft, für ihre Rechte. Jetzt werden genau diese Errungenschaften abgebaut“, sagt Paloma. Sie zählt auf, was alle in Spanien herunterbeten können. Die Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst wurden gekürzt, Renten eingefroren, das Kindergeld gestrichen, die letzten lukrativen Staatsunternehmen privatisiert und den Reichen Steuergeschenke gemacht.“Nach alldem habe ich nur noch wenig Vertrauen in Parteien und Gewerkschaften“, sagt Paloma. Die Protestbewegung bezeichnet sich nicht von ungefähr als völlig unabhängig von allen politischen und sozialen Organisationen.

„Wir sind keine Ware in den Händen der Märkte“, steht auf einem Plakat. „Gewalt ist, 600 Euro im Monat zu verdienen!“, auf einem anderen. Irgendwo dazwischen steht Andrés mit seinem Campingtisch. Darauf liegen die Zeitungen des Tages, die aus der Hauptstadt, aber auch die aus der Provinz. Dutzende von Menschen suchen nach den Fotos der Proteste, die längst auf die meisten großen Städte Spaniens übergriffen haben. Sie lesen erstaunt, kommentieren und freuen sich über den Erfolg ihrer spontanen Aktion.“Wir leben in einer politischen Farce“, erklärt der 28-jährige Chef des „Lesesaales“. Andrés ist Soziologe „mit gutem Abschluss“ und dennoch seit eineinhalb Jahren arbeitslos. Auch er kam am Sonntag vorbei, weil er im Netz den Aufruf gelesen hatte. „Die Politiker sind völlig abgehoben“, beschwert er sich. Die Wahlkampagne zu den Kommunal- und Regionalwahlen am kommenden Sonntag zeige einmal mehr, dass sie sich nicht um die tatsächlichen Probleme der Menschen kümmern. Die beiden großen Parteien geben sich gegenseitig die Schuld an der Krise, versuchen mit den aus dem Bürgerkrieg geerbten Ängsten vor dem jeweils anderen Lager, die Ihren zu mobilisieren und werfen sich gegenseitig vor, korrupt zu sein. „Dabei sind die Korrupten auf allen Listen. Über 260 Politiker, die der Korruption angeklagt sind, oder sogar schon in erster Instanz verurteilt, kandidieren“, zitiert Andrés eine Zahl, die hier jeder kennt.

Die Menschen auf dem Platz fordern eine Verfolgung der Korruption und ein neues Wahlgesetz. Mit dem aktuellen Wahlverfahren haben kleine Parteien keine Chance. Ein Blick auf die Zusammensetzung des spanischen Parlaments, das im Frühjahr 2012 erneuert wird, zeigt dies. Die dritte Kraft im Lande, die Vereinigte Linke, hat mit einer Million Stimmen nur zwei Abgeordnete. Die regierende sozialistische PSOE und die konservative Partido Popular mit jeweils um die zehn Million Wählern 169 bzw. 152 Abgeordnete, und damit knapp die Hälfte des Parlament.“Brutales Zweiparteiensystem“, nennt Fabio Gandara dies. Der 26-Jährige ist einer der wenigen bekannteren Gesichter der Proteste. Der Blogger und Facebook-Fan gehört zu den Gründern von „Echte Demokratie – jetzt!“ Vor drei Monaten entstand die Plattform im Internet. „Die Wenigsten kannten sich persönlich. Wir waren auf allerlei Facebook-Seiten mit sozialen und politischen Inhalten unterwegs“, erzählt der arbeitslose Anwalt. Auch er schimpft auf die Politik zur Krisenbewältigung. In der neoliberalen Wirtschaftspolitik, seien sich die beiden großen Parteien einig. „Dabei gibt es genug Geld, um die Krise sozial gerechter zu bewältigen“, gibt er zu bedenken und redet von Steuern auf Börsengeschäfte und Finanztransaktionen. Doch die Politik sei längst „in den Händen der internationalen Märkte“.

Nach den Kommunal- und Regionalwahlen am 22. Mai will „Echte Demokratie – jetzt!“ konkrete Themen, wie die Mobilisierungen für eine gerechteres Wahlsystem, in Angriff nehmen. „Doch damit nicht genug. Wir wollen eine partizipative Demokratie. Längst werden Steuern per Internet eingetrieben, warum können die Bürger wichtige Entscheidungen nicht selbst per online-Debatten und – Abstimmungen treffen?“ fragt Gandara. „Es geht hier nicht um links oder rechts, nicht um oben oder unten, es geht um den gesunden Menschenverstand“, endet er.

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