© 2011 Reiner Wandler

Die Zeit ist abgelaufen

Die Europäische Union bietet angesichts der Lage in Libyen ein groteskes Schauspiel. Sie überlässt dem italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi das Wort. Er werde das Vorgehen der libyschen Regierung gegen die Proteste nicht verurteilen, lässt der von Richtern bedrängte, sexsüchtige Medienzar verlauten. Ungestört schürt er Ängste und lässt sich dabei von seinem guten Freund, dem bedrängten libyschen Diktator Muammar al-Gaddafi, sowie dessen Sohn die Stichwort geben. Dieser droht damit, die Grenzen zu öffnen, wenn die EU sich gegen ihn stelle.

Nur zögerlich werden in der EU andere Stimmen laut. Sanktionen gegen Libyen wird es keine geben. Dabei handelt es sich bei Gaddafis Repression gegen die Proteste längst nicht mehr um herkömmliche Menschenrechtsverletzungen, wie sie die EU auch bisher nur allzugerne überging. Die wenigen Bilder und Berichte, die aus dem isolierten, nordafrikanischen Land kommen, zeigen eine Reaktion des Regimes, die nur noch mit dem Begriff Verbrechen gegen die Menschlichkeit beschrieben werden kann. Dennoch scheint der EU der Schutz der Südgrenze und die Erdölversorgung die Gaddafi verspricht, wichtiger als die immer wieder gepriesenen demokratischen Prinzipien.

Bereits vergangenen Woche, als rund 5.000 Menschen aus Tunesien über das Mittelmeer nach Lampedusa kamen, durften Berlusconi und seine rechtslastigen Innen- und Aussenminister unwidersprochen ihre demagogische Propaganda verbreiten. Italien befürchte 80.000 Flüchtlinge aus dem Land, das vor fünf Wochen Diktator Zine El Abidine Ben Ali stürzte und damit die Welle der Proteste in der arabsischen Welt auslöste. Terrorkommandos würden sich darunter mischen. Tunesien wäre kurz vor dem Zusammenbruch.

Anstatt Berlusconi, der mit diesem Katastrophenszenario vor allem versucht von seinem Prozess wegen sexueller Kontakte zu Minderjährigen abzulenken, in die Schranken zu weisen, griffen in der restlichen EU – auch in Deutschland – Politiker das Thema Tunesien auf, als kämen die Boote auf dem Berliner Alexanderplatz an.

Die EU macht sich mit dieser Haltung unglaubwürdig. Die Menschen auf der anderen Seite des Mittelmeeres suchen nach Freiheit und Demokratie. Und Europa lässt sie im Stich.

Nach Tunesien, Ägypten und Libyen wird nichts mehr sein wie es war. Die EU hat nur zwei Möglichkeiten. Entweder sie lernt mit den südlichen Nachbarn auf Augenhöhe in einen Dialog um eine echte Mittelmeerpartnerschaft zu treten, oder sie riskiert, dass die junge Generation gänzlich mit uns bricht. Die Zeit zum Umdenken ist eigentlich schon abgelaufen.

Was bisher geschah: