© 2011 Reiner Wandler

Tunesier verteidigen sich selbst


Die Nerven liegen blank in Tunesien. „Stopp“, ruft ein Soldat auf der Kreuzung zwischen Kathedrale und französischer Botschaft in Tunis. Gewehrläufe gehen hoch, der Offizier zieht seine Pistole. Das Auto kommt endlich zum Stillstand. Die Türen werde aufgerissen, die beiden Insassen, junge Männer mit Lederjacken, herausgezerrt auf den Boden geschmissen, Mündung im Genick. Was wie Passanten aussah, entpuppt sich als eine Truppe von Zivilpolizisten, die ebenfalls Pistolen und Knüppel ziehen. Einer redet nervös in sein Sprechfunkgerät. Schaulustige werden verscheucht, die beiden Männer unsanft und noch immer mit der Mündung im Genick abgeführt. „Präsidentengardisten“, meint ein Passant. „Milizen“, ein anderer. In einem sind sich beide einig: „Die Armee macht gute Arbeit. In zwei, drei Tagen kehrt hier bestimmt wieder Ruhe ein.“

Ein paar Meter weiter, am Eingang zur Medina steht Mohammed (Name auf Wunsch geändert) mit seinen Kumpels in der Sonne. Es sind alles Verkäufer aus dem Souk in der Altstadt von Tunis. „Wir machen heute nicht auf. Wir warten noch einen Tag ab“, erklärt der 58-Jährige in gutem Deutsch, das er in seinen sieben Jahre in Düsseldorf in den 1980ern gelernt hat. „In meinem Stadtteil in Mohammedia hielten vergangene Nacht über 500 Jugendliche Wache“, weiß er zu berichten. Sie folgten damit einem Aufruf des Premierminister Mohammed Ghannouchi, der am Freitag in einer Fernsehansprache den Rücktritt des Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali bekanntgegeben hat, und auch die Gewerkschaft UGTT, die sich hinter die erfolgreiche Revolte gegen den 23 Jahre mit eiserner Hand regierenden Staatschefs stellte, zur Bildung von Selbstschutzkommitees.

Mindestens einen Toten habe es in der Nacht vom Samstag auf Sonntag bei ihm draußen gegeben. „Es waren gut organisierte Männer in einem Mietwagen, die in den Stadtteil eindringen wollten. Die Armee schoss“, berichtet er. Auf die Frage wen er dahinter vermutet, hat der Händler, der an Touristen Kunsthandwerk verkauft, keinen Zweifel: „Es sind Milizen, die von Ben Alis Clan und der Familie seiner Frau bewaffnet wurden, um Panik zu sähen.“

„Autoimport, die großen Handelsketten, Banken, Tunis Air …“, zählt Mohammed auf, was alle Tunesier wissen. Das Umfeld von Ben Ali und mehr noch die Familie Trabelsi, so der Mädchennamen der ehemaligen ersten Dame Leila, haben sich bei den Privatisierungen der letzten Jahre alles angeeignet, was ein gute Geschäfte verspricht. „Jetzt ist das Spiel aus. Die Milizen plündern und zerstören unter anderem die Supermärkte, damit sie nicht in die Hand des Volkes oder der neuen Regierung fallen“, analysiert Mohammed.

In der Nach nach Ben Alis Flucht wurden tatsächlich zwei große Einkaufszentren vor den Toren der Hauptstadt ausgeräumt und dann angesteckt. Es waren schnelle Aktionen, die trotz Ausgangssperre und Ausnahmezustand mit Schießbefehl stattfinden konnten. „Die Polizei ist korrupt“, meint Mohammed dazu nur. Doch damit nicht genug. Am Samstag Nachmittag versuchten Milizionäre das Innenministerium auf der Hauptstraße Avenue Habib Bourguiba, an der auch die Hotels liegen, in der viele der ausländischen Journalisten untergebracht sind, anzugreifen. Armee und Polizei eröffneten das Feuer. Zwei leblose Körper wurden weggeschafft.


Insgesamt war die zweite Nacht nach Ben Alis überraschender Abreise nach Saudi Arabien am Freitag allerdings ruhiger als die erste. Es waren in der Hauptstadt deutlich weniger Schüsse zu hören als am Vortag. Schwere Armeehubschrauber überflogen ständig den Großraum Tunis. Der am Sonntag vereidigte Übergangspräsident Fouad Mebazaa, der bisher dem Senat vorstand, erste größere Säuberungsaktionen im alten Staatsapparat angeordnet. So wurde der Chef der Präsidentengarde, Ali Seriati, festgenommen.

Nach Beginn der täglichen Ausgangssperre um 17 Uhr hängen die Tunesier wie gebannt vor dem Fernseher und dem Radio. Die heimischen Sender bieten Debatten über die Zukunft des Landes bei denen auch Bürger per Telefon zugeschaltet werden. Immer wieder unterbrechen Eilnachrichten über Gewaltakte die Programme. In Tunis und im südtunesischen Sfax wurde aus gestohlenen Krankenwägen das Feuer auf Passanten eröffnet. Französische Sender bringen derweilen die Nachricht vom Tod des Fotograf der französischen Presseagentur EPA Lucas Mebrouk Dolega. Der 32-Jährige erleg den Verletzungen durch eine Tränerngasgranate auf der Demonstration vom Freitag, die endgültig den Sturz Ben Alis einleitete. Es scheint auch zu ersten Abrechnungen innerhalb des Regimes zu kommen. So wurde bekannt, dass Imed Trablesi, der Lieblingsneffe von Ben Als Gattin Leila, am Freitag erstochen wurde. Er war der Besitzer einer Möbelhauskette und Immobilienhändler.

Wer nicht den Nachrichten folgt, beteidigt sich am Schutz seimnes Wohnviertels. Die Seitenstraßen sind mit eiligst zusammengezimmerten Sperren abgeriegelt. Meist junge Menschen stehen dahinter, bewaffnet mit Knüppeln, Metallrohren und mancher auch mit einer Machete. „Das ist die Solidarität der Nachbarn“, erklärt einer von ihnen. Ahmed ist 29 Jahre alt und macht ein Masterstudium in Business Management. „Wir stoppen alle Autos, die hier reinwollen“, sagt er. Er steht unweit von der Wohnung der am Wochenende aus dem spanischen Exil zurückgekehrten Menschenrechtlerin und Journalistin Sihem Bensedrine.

„Die Milizen, die derzeit das Land unsicher machen wurden eigens von der Familie Trabelsi ausgerüstet“, erklärt die Betreiberin der mittlerweile wieder freigegebenen Seite des Internetradios Kalima, eine der Stimmen der Opposition. „In zwei bis drei Tagen kehrt bestimmt Ruhe ein. Das Rad kann nicht zurückgedreht werden“, ist sich Bensedrine sicher. Verschiedene Menschen- und Bürgerrechtsgruppen seien dabei sich zu einer Plattform zusammenzuschließen, um den Weg zur Demokratie, den Übergangspräsident Mebazaa und Premier Ghannouchi angekündigt hat zu überwachen.

Auch auf dem Hof eines der wichtigsten Krankenhäuser der Hauptstadt, dem Hôpital Charles Nicolle, sind die unsicheren Nächte aber auch die Zukunft des Landes das Thema der Ärzte bei einer Zigarettenpause. Während die Polizei niemanden auch nur die Straße überqueren ließ, versuchte in der Nacht vom Freitag auf Samstag eine Gruppe schwarz gekleideter Männer mit Knüppeln und Eisenstangen das Spital zu überfallen.

„Zusammen mit Jugendlichen aus den umliegenden Stadtteilen haben wir sie mit Gestängen der Transfusionsgeräte vertrieben“, berichtet der Universitätsarzt Benslema Riad: „Das hier ist ein Land, in dem mafiöse Strukturen alles kontrolliert haben, die wollten sich einfach rächen und Panik erzeugen.“

Doch das Hauptthema von Benslema und seinem halben Dutzend Kollegen ist die Zukunft Tunesiens. Wer eine Chance hat, von der Bevölkerung in zwei Monaten zum Präsidenten gewählt zu werden, weiß niemand zu sagen: „Ben Ali hat ganze Arbeit geleistet bei der Unterdrückung der Opposition, er hat eine Wüste hinterlassen“, meint einer der Ärzte. „23 Jahre haben wir nur FFF im Fernsehen gesehen: Frauen, Festivals, Fußball“, wirft ein anderer ein. Doch alle sind sich sicher, dass sich im bevorstehehenden Demokratisierungsprozess Persönlichkeiten profilieren werden. Im Augenblick sind sie vor allem auf eines stolz: „Egal wer letztendlich Präsident wird, Tunesien wird das erste Land sein, in dem weder ein Militär noch ein König das Amt des Staatschefs inne hat. Was hier geschieht wird auf die gesamte arabische Welt Auswirkungen haben!“

Da ist sich auch Mohammed vor der Medina sicher: „Der nächste der stürzt, wird Mubarak in Ägypten sein“, sagt er. „Es ist doch nicht normal, dass ein Präsident nach 30 Jahren die Macht an seinen Sohn übertragen will als wäre es eine Monarchie. Und ausgerechnet wir, das kleine Tunesien, haben vorgemacht wie es geht.“ Auch er weiß nicht, wer jetzt in Tunesien das Ruder übernehmen könnte, um das Land „in ruhige Gewässer zu führen“, wie er es nennt. Nur wenn er auf gar keinen Fall an der Macht sehen will, kann er mit Sicherheit sagen: „Die Islamisten von Ennahda.“ Der in London lebende Chef der verbotenen Ennahda-Bewegung, Rachid Ghannouchi, kündigte am Samstag in einem Interview auf Al Djazeera seine baldige Rückkehr an.

Was bisher geschah: