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Tunesien: Reise ins Ungewisse

Der Ruf spricht für sich: „Wir haben keine Angst“, skandieren in Tunesien die jungen Demonstranten und wehren sich verzweifelt mit Steinen und Molotowcocktails gegen Spezialeinheiten der Polizei und gegen schwer bewaffnete Soldaten. Diese haben am Wochenende in mindestens fünf Städten – Kasserine, Thala, Rgueb, Meknessi und Feriana – von der Schusswaffe Gebrauch gemacht, um Demonstrationen aufzulösen. 14 Menschen haben dabei laut Innenministerium ihr Leben verloren. Internationale Presseagenturen reden von 23 Opfern und die Menschenrechtsorganisation Nationaler Rat für Freiheit in Tunesien (CNLT) veröffentlichte gestern gar eine Liste mit 50 Namen. „Die Lage kennt kein Zurück mehr“, erklärt ein Blogger im Internet. Längst ist auf Twitter von Revolution die Rede.

In Thala, 230 Kilometer südwestlich der Hauptstadt Tunis, hat Armee und Polizei nach Informationen der Menschenrechtsorganisation CNLT am Schlimmsten gewütet. Es kam zu mehreren Toten bei einer Demonstration. Die Krankenhäuser seien völlig überfüllt. „Wohnungen wurden gewaltsam durchsucht und massive Festnahmen unter Jugendlichen durchgeführt“, heißt es in einem Kommuniqué. Die Jugendlichen seien nach Angaben ihrer Familien aus dem Stadtzentrum gebracht worden. „Mehrere von ihnen wurden später in der Nähe des Friedhofes von Kugeln durchsiebt in einem Flussbett aufgefunden“, schreibt der CNLT.

„Die Polizei hat das Feuer in gerechtfertigter Selbstverteidigung eröffnet, nachdem sie mit Warnschüssen versucht hatte, die Demonstranten davon abzuhalten, öffentliche Gebäude anzugreifen“, erklärt hingegen das Innenministerium.

Der Aufstand der tunesischen Jugendlichen begann vor drei Wochen in Sidi Bouzid, der Hauptstadt einer landwirtschaftlichen Provinz im Zentrum des nordafrikanischen Landes. Dort übergoss sich am 17. Dezember der arbeitslose 26-jährige Mohamed Bouazizi mit Benzin und steckte sich selbst in Brand, nachdem die Polizei seinen Karren, mit dem er als fliegender Händler Gemüse verkaufte, beschlagnahmt und ihn auf der Wache misshandelt hatte. Bouazizi, der vergangenen Dienstag seinen Verletzungen erlag, teilte das Schicksal vieler seiner Altersgenossen. Trotz Hochschulstudium fand er keine Arbeit. Über 30 Prozent der jungen Tunesier ergeht es ähnlich. Mittlerweile haben mindestens drei weitere Tunesier öffentlich Selbstmord begangen.

Die Selbstverbrennung Bouazizis löste eine Welle der Proteste gegen die soziale Not und die Korruption in Tunesien aus, wo es ohne Beziehungen und Bestechungsgelder nur schwer einen Job gibt. „Nieder mit Ben Ali“, fordern die Demonstranten den Rücktritt des seit 23 Jahren diktatorisch herrschenden, tunesischen Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali.

Auch gestern kam es trotz massiver Polizei- und Armeeeinsätze erneut in überall im Land zu Demonstrationen und Sit Ins. „In Kasserine, nahe der algerischen Grenze, setzte die Polizei abermals Schusswaffen ein, dabei kam es wieder zu Toten“, berichtet ein Anwalt aus der Hauptstadt Tunis am Telefon. Studenten, Gymnasiasten sowie Anwälte hätten in mindestens einem Dutzend Städten zu Trauerdemonstrationen für die Toten von Wochenende gerufen. Der Anwalt, der Ende Dezember von der Polizei einen Tag lang entführt worden war, berichtet von Straßenschlachten in mehreren Vierteln der Hauptstadt Tunis.

Eine junge Studentin aus Sidi Bouzid weiß von ähnlichen Szenen in Rgueb im Zentrum des Landes, sowie aus der heiligen Stadt Kairouan und im Küstenort Sousse. Nichts deutet auf ein Ende der Gewalt hin. „Sidi Bouzid ist regelrecht besetzt“, erklärt die junge Frau, die auf mehreren Blogs schreibt am Telefon. Und Rgueb 38 Kilometer entfernt ist von Spezialeinheiten der Polizei eingekesselt. „Dort schießen die Soldaten wieder scharf“, erklärt sie. Ob erneut Tote zu beklagen sind, wusste die junge Frau nicht zu sagen. Weder sie noch der Anwalt wollen ihren Namen gedruckt sehen.

Auch Thala ist vollständig von der Aussenwelt abgeschlossen. Das Telefonnetz, Handyverbindungen und Internet wurden gekappt. „Wie es weitergeht, weiß keiner zu sagen“, erklärt die Bloggerin. „Es geht das Gerücht um, dass der Präsident heute Abend eine Fernsehansprache halten wird“, berichtet sie. Ben Ali habe seine Familie bereits ausser Landes gebracht lautet ein anderes Gerücht, das sich wacker im Internet hält. 150 einflussreiche Geschäftsmänner aus dem Umfeld des Präsidenten seien ebenfalls ausgereist.

Was bisher geschah: