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Tunesien auf dem Weg zum Übergang

Tunesien hat eine neue Regierung. Am Montag Nachmittag stellte Ministerpräsident Mohammed Ghannouchi, der bereits unter dem am Freitag gestürzten Präsidenten Zine-El Abidine Ben Ali gedient hatte, sein neues Kabinett der nationalen Einheit vor. Die drei wichtigsten Oppositionsparteien sind mit jeweils einen Minister im Kabinett vertreten.

Der Anwalt Nejib Chebbi, Chef der Fortschrittlich Demokratischen Partei (PDP), wird Minister für regionale Entwicklung. Der 66-Jährige gilt in den Diplomatenstuben in Europa und den USA als der vertrauenswürdigste Oppositionspolitiker. Der Vorsitzende der Demokratischen Forums für Freiheit und Arbeit, der Sozialdemokrat und Arzt Mustafa Ben Jaafar, begleitet das Ressort Gesundheit und der Vorsitzende der Ettajid-Partei, der Ex-Kommunist Ahmed Brahim, Bildung. Weitere Ämter gehen an Persönlichkeiten aus der Zivilgesellschaft, darunter drei Mitglieder der Gewerkschaft UGTT.

Sechs Minister der alten Regierung gehören auch der Übergangsregierung an. Neben Ministerpräsident Ghannouchi und dem kurz vor Ben Alis Sturz ins Amt gekommene Innenminister, behalten auch die Chefs der Schlüsselressorts für Auswärtiges, Verteidigung und Finanzen ihr Amt. Sie gelten als wenig belastet.

Insgesamt gehören der Übergangsregierung 19 Minister an. Ein Informationsministerium, das als Zensurbehörde diente, wird es künftig nicht mehr geben. Premier Ghannouchi versprach „völlige Informationsfreiheit“.

Als erste Maßnahme verkündete die neue Regierung die Freilassung aller politischer Gefangener. Wer ins Exil gehen musste, darf zurückkehren. Dies gilt unter anderem für den Chef der islamistisch Bewegung Ennahda, Rachid Ghannouchi, der seit den 1990er Jahren in London lebt.

Ennahda, die Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre die stärkste Oppositionsbewegung in Tunesien stellten, ist der große Verlierer der Verhandlungen für eine Übergangsregierung. Die Islamisten wurden ganz bewusst nicht geladen. Keiner weiß im Augenblick zu sagen, auf wie viele Anhänger Ennahda noch hat. Das wird sich erst zeigen, sobald Rachid Ghannouchi zurückkehrt. Anders als die meisten Oppositionskräfte können die Islamisten allerdings auf Strukturen setzen. Denn so mancher Imam dürfte sie von der Moschee aus unterstützen, sobald sie ersteinmal am politischen Prozess teilnehmen.

Die Säuberungen im Polizeiapparat und zahlreiche Festnahmen aus den Reihen der ehemaligen Präsidentengarde, die unter Leitung der Armee durchgeführt werden, zeigen ihre Wirkung. Die Sicherheitslage hat sich am Montag deutlich verbessert. Die Opposition vertraut den Soldaten. Es gäbe keine Anzeichen dafür, dass die Generäle der mit 35.000 Mann relativ kleinen Armee politische Ambitionen hätten. Die Weigerung der Armee auf die Demonstrationen zu schießen, gab mit den Ausschlag für den Rücktritt von Präsident Ben Ali nach 23 Jahren an der Macht.

Bei der Polizei stehen immer mehr junge Beamte, viele aus dem Innendienst, den Einheiten vor, die strategisch wichtige Punkte überwachen. Dies wird als Versuch der neuen Regierung gewertet, alten Seilschaften in der über 130.000 Mann starken Polizei zu unterdrücken, die wohl mit dafür verantwortlich waren, dass Milizionäre in den letzten Tagen während der Ausgangssperre Gewaltakte durchführen konnten.

„Es ist eine Regierung aus zwei Dritteln Oppositionellen und Unabhängigen und einen Drittel Technokraten aus dem alten Regime sein“, zeigt sich Ahmed Bouazzi aus dem PDP-Vorstand zufrieden. Der Chef der gemäßigt linken Formation, Nejib Chebbi, wurde zum Minister für regionale Entwicklung ernannt. Noch bei den letzten Präsidentschaftswahlen 2009 wurde Kandidatur 66-jährige Anwalts annulliert. Em Ministerium fällt die Aufgabe zu die Regionen zu unterstützen, die bisher wirtschaftlich vernachlässigt wurden, darunter Sidi Bouzid im Landesinneren, wo die Jugendunruhen Mitte Dezember begannen.

Laut Bouazzi wird die neue Regierung „drei wichtigen Kommissionen“ gründen, um die neue Rechtslage für Versammlungs- und Pressefreiheit sowie für freie Wahlen auszuarbeiten, sowie die Korruption zu untersuchen und die Verantwortlichen für die blutige Repression vor dem Sturz Ben Alis zur Verantwortung zu ziehen.

„Alle, die direkt für das alte Regime mitverantwortlich waren, müssen aus den Institutionen verschwinden“, erklärt Bouazzi außerdem. Die bisherige Regierungspartei RCD müsse außerdem ihre Strukturen in Ämtern und Behörden auflösen: „Staat und Partei müssen getrennt werden.“ Wer bei Ben Ali nicht in der Partei war, brachte es zu nichts. 2,5 Millionen Mitglieder bei einer Bevölkerung von 10,5 Millionen zählt die RCD, die der Sozialistischen Internationalen angehört.

Das Parlament wird bis zu Neuwahlen, die Bouazzi lieber in sechs als, wie in der Verfassung vorgesehenen zwei Monaten, abhalten will, um den Parteien Zeit zu geben, bestehen bleiben, „aber nur um die Reformgesetze durchzuwinken“. Er glaubt nicht, dass die beiden Kammern versuchen werden, den Übergang zur Demokratie zu blockieren: „Das wäre die Revolution. Denn die Gewerkschaft UGTT ist mit in der Regierung. Sie ist jederzeit in der Lage das Land lahm zu legen.“

Bei der UGTT sind sie sich ihrer Verantwortung und herausragenden Rolle bewusst. Vor der Unabhängigkeit von Frankreich ins Leben gerufen, hat sich die 500.000 Mitglieder zählende Gewerkschaft immer eine gewisse Unabhängigkeit wahren können, auch wenn Ben Alis RCD im Vorstand starken Druck ausübte. Die UGTT war auf mittlerer und unterer Ebene so etwas wie ein Zufluchtsort für Linke und Basisoppositionelle aller Couleur. Der Flächenbrand der Unzufriedenheit mit dem System Ben Ali erzeugte eine Welle der Solidarisierung der Gewerkschafter in ganz Tunesien.

„Wir werden mit unseren Ministern eine wirkliche Öffnung des Landes gewährleisten“, erklärt das UGTT-Vorstandsmitglied Amami Mongi. Neben der völligen Zerschlagung der Strukturen der RCD, „die auf allen Ebenen an der Unterdrückung des Volkes beteiligt war“, verlangt er „die Rückführung der Besitztümer des Clans Ben Ali und der Familie seiner Frau Leila an das Volk“.

Verschiedene Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen wollen eine gemeinsame Plattform gründen, um den Übergangsprozess zur Demokratie kritisch zu begleiten, kündigte in Tunis die aus dem Exil zurückgekehrte Sihem Bensedrine, Vorsitzende des Rates für die Freiheit in Tunesien an.

Die neue Regierung überzeugt längst nicht alle. Noch vor Ghannouchis Pressekonferenz kam es in mehreren Städten zu Demonstrationen für die völlige Zerschlagung des alten Regimes. Die Polizei löste die Demonstration auf, bevor sie das Innenministerium erreichte.

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Meine Meinung

Auf dem Weg in neue Zeiten

Tunesien ist auf dem Weg zur Normalität. Am Montag stellte Premierminister Mohammed Ghannouchi das Kabinett der Nationalen Einheit vor, dass das nordafrikanische Land aus der Ära des gestürzten Diktators Zine El Abidine Ben Ali zur politischen Öffnung führen soll.

Die Nachricht ist dabei nicht, dass dem neuen Kabinett neben dem Premier selbst fünf weitere, alte Gesichter angehören. Die Nachricht sind die 13 Neuen. Es sind drei Vertreter der legalen bzw. halblegalen Oppositionsparteien darunter und – was am meisten wiegt – Vertreter der Zivilgesellschaft, untern anderem drei, die aus der Gewerkschaft UGTT kommen. Die Unterstützung der Gewerkschaft war wichtig für die Jugendrevolte.

Dieser Schritt ist mutig und zu begrüßen. Denn eine Oppositionskraft oder gar einen Oppositionsführer als solcher gibt es in Tunesien nicht. Ben Ali hat es verstanden, alle mundtot zu machen und aus dem öffentlichen Leben zu drängen, die ihm irgendwie gefährlich werden konnten. Doch was die 23 Jahre Diktatur überlebt hat, war die Zivilgesellschaft, zusammengesetzt aus vielen einzelnen, mutigen Stimmen.

Sicher haben diese meist keinen medienwirksamen Namen und kein bekanntes Gesicht, zumindest nicht im Ausland. Aber sie haben die ganzen Jahre die Stimme gegen Repression und für Demokratie und Gerechtigkeit erhoben. Es ist nur konsequent, dass sie jetzt stärker vertreten sind, als die Parteistrukturen.

Tunesien steht nun vor einer Zeit der Diskussionen und Ideen. Die neue Regierung muss dabei den Rahmen schaffen, in dem freie, demokratische Meinungsbildung möglich ist, damit eine Parteienlandschaft entstehen kann. Die Auslösung des Informationsministeriums – wie sie Ghannouchi gestern bekannt gab – und die Einführung der Pressefreiheit ist dabei der richtige Weg.

Tunesien braucht jetzt ruhige Tage. Die Sicherheitslage hat sich bereits deutlich verbessert. Hinter den Kulissen finden Säuberungen bei Polizei- und Staatsapparat statt.

Und Tunesien braucht auch Zeit um seinen Weg zu finden. Parteien und Persönlichkeiten, die ein Land demokratisch führen können, schießen nicht über Nacht wie Pilze aus dem Boden. Dieser Prozess benötigt Vertrauen und Unterstützung. Es wäre falsch wenn sich die Regierungen in Europa – vor allem in Frankreich – oder den USA bereits jetzt auf neue Führer festlegen würde.

Die Versuchung ist sicher groß. Doch viele Tunesier würde dies, nach der mutigen Revolution als unerwünschte Einmischung begreifen. Zumal sich Europa in den letzten 23 Jahren nicht gerade mit Ruhm bekleckert hat, wenn es um Tunesien ging.

Was bisher geschah: