© 2011 Reiner Wandler

"Europa ist Komplize dieses Regimes."

Die Journalistin und Sprecherin des Nationalen Rats für Freiheit in Tunesien (CNLT), Sihem Bensedrine (60), ist eine der bekanntesten Kritikerinnen des tunesischen Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali. Sie ist seit 1980 für Menschen- und Bürgerrechte in ihrer Heimat aktiv. 2001 wurde sie nach Publikationen über Korruption und Folter inhaftiert. Das Büro von Sihem Bensedrine wurde immer wieder aufgebrochen und durchsucht. Schließlich wurde sie auf offener Straße von zwei maskierten Männern überfallen und zusammengeschlagen. Um der ständigen Repression zu entgehen, lebt sie seit einigen Jahren in Europa. Zur Zeit hält sie sich in Barcelona auf. Sie organisiert das oppositionelle Internetradio Kalima.



Tunesien galt bisher als das ruhigste und modernste Land in Nordafrika. Woher kommt plötzlich diese geballte Wut der jungen Leute?

Wir Menschen- und Bürgerrechtler haben bereits seit Jahren davor gewarnt, dass die repressive Politik von Präsident Zine El Abidine Ben Ali zu einem solchen Gewaltausbruch führen wird. Leider hat uns niemand zugehört. In Tunesien haben nicht nur die jungen Menschen, sondern die Bürger im allgemeinen, keinerlei Rechte. Alles andere ist Marketing, um ein Bild des Landes zu verkaufen, das zeigen soll, dass in Tunesien alles hervorragend läuft. Das ist alles nur eine Maske. Die Revolte hat diese jetzt dem Regime vom Gesicht gerissen.

Alle Welt starrt gebannt auf Nordafrika und sieht dabei nur die Gefahr des Terrorismus. Das tunesische Regime hat diese Ängste genutzt und völlig übertrieben, um damit die repressive Politik zu begründen und Unterstützung dafür zu bekommen. Und das obwohl selbst der UN-Beobachter für Menschenrechte im Kampf gegen den Terrorismus nach einem Tunesienbesuch Anfang 2010 festgestellt hat, dass diese Gefahr in Tunesien nicht besteht. Alle sogenannten Antiterrorgesetze wurden von Ben Ali dazu benutzt, jedwede Freiheiten zu beschneiden.

Es entsteht der Eindruck, dass Ben Ali die relative Ruhe und Stabilität mit einer gut gehenden Wirtschaftspolitik erreicht hat. Jetzt in der internationalen Wirtschaftskrise brechen die Unruhen aus.

Es ist nicht nur die wirtschaftliche und soziale Lage, die zur Revolte geführt haben. Die politische Unzufriedenheit spielt ein große Rolle. Seit den ersten Demonstrationen am 18. Dezember lautet einer der am meistgerufenen Parolen „Gebt das Geld des Volkes zurück, Diebesbande!“ Sie beschuldigen die Regierung eine korrupte Mafia zu sein, die das Volk unterdrückt, um es in Ruhe ausnehmen zu können. Die Revolte ist ein Ausdruck des Frustes über die soziale Ungerechtigkeit aber auch über die systematische Repression und polizeistaatliche Überwachung. Der junge Arbeitslose, der sich am 17. Dezember in Sidi Bouzid mit Benzin übergossen und selbst in Brand gesteckt, hat dies nicht wegen seiner wirtschaftlichen Notlage getan, sondern weil seine Wagen, mit dem er Gemüse verkaufte, immer wieder beschlagnahmt wurde, und er immer wieder auf der Polizeiwache misshandelt wurde. Die Beamten erpressten Geld von ihm. Es ist ein Summe von Frustrationen, die die junge Menschen bewegen. Es ist eine Revolte, um die eigene Würde zurückzuerobern.

Ist das der Anfang vom Ende des Regimes von Präsident Ben Ali?

Ich bin mir sicher, dass Ben Ali diese Revolte nicht übersteht.

Stellt sich die Frage, wer dann den Platz einnehmen kann, wenn das Regime zusammenbricht.

Das ist genau das Problem. Es gibt keine organisierte politische Opposition. Das Regime hat alle friedlichen Alternativen systematisch zunichte gemacht, angefangen bei den demokratischen Parteien bis hin zu den politischen Islamisten. Europa hat dabei zugeschaut. Ich weiß nicht, wer in die Rolle einer Führungskraft schlupfen könnte.

Was heißt das? Irgendwie muss die Unzufriedenheit doch in politische Bahnen gelenkt werden.

Es handelt sich um einen Volksaufstand. Die Menschen wollen dieses Regime nicht mehr. Die einzige Kraft, die derzeit in Tunesien funktioniert, ist die Gewerkschaftszentrale UGTT. Sie hat sich öffentlich hinter die Demonstrationen gestellt und verlangt, dass Polizei und Armee abgezogen werden. Viele Demonstrationen treffen sich an den örtlichen Gewerkschaftshäusern. Die Gewerkschaft hat den Dialog mit der Premierminister abgebrochen, weil er sich weigerten über die Unruhen und das gewaltsame Vorgehen der Polizei und Armee zu reden.

Gibt es innerhalb des Regimes, innerhalb der Regierungspartei Demokratisch-Konstitutionellen Sammlungsbewegung (RCD), Kräfte, die Willens sind, sich an einem friedlichen Übergang zu einem demokratischen Tunesien zu beteiligen?

Innerhalb der Regierungspartei gibt es eine starke Strömung, die mit der Vorgehen Ben Alis nicht einverstanden ist. Ob und was sie vorbereiten, weiß ich allerdings nicht. Aber das könnte eine Alternative sein. Und das wäre sicher wünschenswert.

Wenn ich Sie richtig verstehe, machen Sie Europa für das was in Tunesien passiert mitverantwortlich.

Die Europäische Union ist ganz direkt verantwortlich, für das was in Nordafrika geschieht. Die EU stellte sich blind und taub angesichts der Berichte aus Tunesien. Es gibt in Tunesien kein Wirtschaftswunder und auch kein soziales Wunder, wie immer wieder behauptet wird. Es gibt überhaupt kein Wunder. Die Massaker der letzten zwei Tage begannen am Tag nachdem der tunesische Außenminister in Frankreich zu Besuch war. Das ist sicher kein Zufall.

Sie glauben, dass Paris die Genehmigung dazu gegeben hat?

Die Tatsachen sprechen für sich. Frankreich hat die Diktatur Ben Alis von Anfang an unterstützt. Die Spezialeinheiten rückten am Tag nach dem Frankreichbesuch aus. Es gibt mehr als 50 Tote und die internationale Gemeinschaft reagiert nicht. Egal ob in Birma oder sonstwo protestiert die EU immer. Und jetzt bei Tunesien, das eineinhalb Flugstunde von Paris entfernt ist, schweigt Europa. Die EU ist damit Komplize dieses kriminellen Regimes.

Foto: Hamburger Stiftung für politisch Vefolgte

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