© 2011 Reiner Wandler

Chaos in der Banlieu

„Ich kann es einfach nicht glauben“, sagt die junge Frau und schüttelt den Kopf. Zusammen mit hunderten von Passanten steht sie vor einer Häuserfront gleich gegenüber der Straßenbahnstation Intilaka in Ettadhamen, dem größten Viertel in der Banlieu der tunesischen Hauptstadt Tunis. Rauch dringt aus schwarzen Fensterlöchern, Metallläden wurden geknackt, die Schaufenster eingeschmissen, die Geschäfte leergeräumt. Auch die Ausgangssperre, die am Präsident Zine El Abidine Ben Ali am Mittwoch Abend ab 20 Uhr bis 6 Uhr in der früh über den Großraum Tunis verhängen ließ, half nichts. Die Unruhen in den westlichen und südlichen Vororten der Hauptstadt gingen unvermindert weiter.

Ein beissender Geruch nach verbranntem Gummi und Kunststoff liegt in der Luft. Die Feuerwehr hält vor den Resten einer ausgebrannten Drogerie und einer Apotheke gleich nebenan Brandwache. Noch immer kommt schwarzer Rauch aus den schwarzen völlig zerstörten Ladenräumen. Von hier an wurden mehrere hundert Meter stadtauswärts alle Geschäfte geplündert. Die Straße ist mit Steinen übersät. Ein Wachhäuschen auf einer Verkehrsinsel, in dem normalerweise Polizeibeamten Verkehr und Bewohner beobachten, wurde schwer beschädigt. Das verkohlte Skelett eines Stadtbusses ziert die Szenen. Ein arabischsprachiges Graffiti verkündet: „Wenn ihr wieder kommt, kommen auch wir zurück!“

„Es fahren keine Busse, deshalb bin ich bin heute nicht zur Arbeit gegangen, sondern bin hierher gekommen, um zu schauen was los ist“, fährt die junge Frau, die im Kundenservice eines amerikanischen Informatikunternehmens arbeitet, fort. Von den Unruhen in Ettadhamen hat sie erstmals – nicht wie bisher üblich – über Twitter oder blogs erfahren, sondern aus der tunesischen Presse. Am Donnerstag zieren Fotos von brennenden Gebäuden die Titelblätter, der sonst gründlich zensierten Tagespresse. Le Temps, eine der wichtigsten französischsprachige Tageszeitung des Landes, zählt in einem langen Artikel alle Orte auf, an denen es am Mittwoch erneut zu Unruhen kam, Verletzte und 8 Tote inbegriffen. „Dieses Blutvergießen muss enden. Unser Volk verdient etwas Besseres“, lautet die Überschrift eines Meinungsartikels.

„Ich kenne viele derer, die mit der Protestbewegung angefangen haben aus meiner Zeit an der Uni. Die machen sowas nicht“, ist sich die junge Frau sicher. Für sie sind die Urheber der Verwüstung normaler, kleiner Läden „Kleinkriminelle und gemeine Diebe“. Sie möchte ihren Namen nicht nennen, wie keiner der Umstehenden. Aber dennoch redet sie weiter, als sich Gestalten mit schwarzer Lederjacke und Sonnenbrille auffällig nahe postieren. Eine Zivilcourage, die neu ist in Tunesien.

Bisher wurden immer wieder öffentliche Einrichtungen in Brand gesteckt aber gezielte Plünderungen wie die von Ettadhamen waren in den seit nunmehr fast einem Monat andauernden Jugendrevolte nicht an der Tagesordnung. So mancher versucht deshalb zu analysieren, wie das geschehen konnte. „Die Polizei zog zwischen 14 und 15 Uhr ab“, erzählt eine Passant. Sie seien erst gegen 22 Uhr zurückgekommen. Da lag längst alles in Schutt und Asche. Auch er kann nur den Kopf schütteln über die blinde Wut gegen normale Geschäfte.

Ob die zwei Dutzend Polizisten, die für die Hauptstraße von Ettadhamen zuständig waren, vor der mehrere hundert Jugendliche zählenden Menge floh, oder ob sie einfach das Feld räumten, um mit dem Chaos zu zeigen, dass nur das Regime des seit 23 Jahren mit eiserner Hand regierenden, verhassten Präsidenten für Ordnung sorgen kann, darüber herrscht keine Einigkeit.

„Die zwei ausgebrannten Geschäfte gehörten nicht irgendjemandem“, weiß ein Mann über 50, der mit Freunden vor einer kleinen Cafeteria einen Kippe raucht und seinen Frühstückskaffe schlürft. Der Besitzer sei der ehemalige Bezirksbürgermeister. „Der hat sich im Amt so reich gemacht, dass er mittlerweile in einer Luxusvilla am Standrand lebt“, fügt er hinzu. Er könne die Wut verstehen, schließlich sei das System durch und durch korrupt. „Nur wer bei seinen Anträgen auf den Behörden Schmiergeld bezahlt, bekommt was er will“, berichtet der ehemalige Händler für PKW-Ersatzteile aus eigener Erfahrung, etwas, was die Opposition auch als Grund für den Selbstmord des jungen Arbeitslosen in Sidi Bouzid im Zentrum des Landes sieht. Dem fliegenden Gemüsehändler war am 17. Dezember zum wiederholten Male Handkarren und Ware beschlagnahmt worden. Auf der Wache sei er misshandelt und erpresst worden. Aus Verzweiflung übergoss er sich mit Benzin und steckte sich selbst in Brand. Ein Fanal, das die Jugendproteste überall im Lande entfachte.

„Spätestens seit 2003, 2004 ist die Praxis, Schmiergeld zu verlangen, generell üblich“, fährt der Mann im Café fort. Er habe deshalb aufgehört Autoersatzteile einzuführen. Die Korruption erdrücke kleine Geschäftsleute wie ihn. „Es ist doch nicht normal, dass junge Menschen um die 30 schon Millionäre sind“, bezieht er sich auf Fälle, die immer wieder aus dem Umfeld der Präsidentenfamilie bekannt werden. Auf die Frage, ob der Präsident Ben Ali zurücktreten solle, wird er allerdings ungehalten. „Hören Sie: Ben Ali ist die Sonne, die über Tunesien scheint. Es ist sein Umfeld das schlecht ist, nicht er.“ Er glaubt den am Mittwoch gemachten Versprechungen des tunesischen Staatschefs, die Korruption untersuchen zu lassen.

„Wir brauchen Demokratie“, erklärt ein paar Meter weiter ein Hilfsarbeiter Anfang 20, der die Rolle des Präsidenten alles andere als positiv einschätzt. „Auch wenn wir das nicht gelernt haben, müssen wir einfach die Chance bekommen, die Freiheit auszuprobieren.“ Als sich auch hier ein paar Herren in Schwarz nähern, schaut er kurz über die Schulter und sagt
dann gelassen: „Wir haben keine Angst mehr.“ Für ihn ist die Erklärung der Zerstörungswut in Ettadhamen einfach: „Ganz im Ernst: Ich glaube, dass die Jugendlichen, die das gemacht haben, von den Flics engagiert waren.“

Was bisher geschah: