© 2010 Reiner Wandler

The Last Frontier: Adventure Highway


Langweilig wird es Jim Cook nie. Zwar lebt er hier oben im hohen Norden Kandas entlegen an der Meile 1.164 des Alaska Highway. „Aber es kommen Menschen aus allen Herren Ländern durch. Ich habe immer interessante Gespräche“, erklärt der Alte in seinen loddrigen Jeans, kariertem Hemd und Baseballmütze. Heute genießt er die Konversation beim Kaffee ganz besonders. „Ich bin gestern spät abends aus Vancouver zurückgekommen. Ihr seit die ersten Gäste“, sagt er, bevor er erklärt, wie es dazu kam. Vor zehn Monaten fuhr Cook wegen eine Hüftoperation in den Süden Kanadas. Nach zwei Tagen kam der Schock: „Sie diagnostizierten einen schweren Magenkrebs. Operation, Chemo- und Strahlentherapie, doch ich habe die Krankheit besiegt“, sagt er zufrieden und doch nachdenklich. Dann schaut er mit leuchtenden Augen seinem Hund hinterher. Der starke Labrador jagt draußen vor der Tür Vögel. „Habt ihr gesehen, wie er sich freut?“ fragt der Alte, bevor er seinen Magen mit einem Schluck schwarzen Kaffee auf die Probe stellt und erneut ansetzt: „Manchmal wollte ich nur noch sterben. Ich habe nicht gedacht, dass ich das Alles hier noch mal sehe.“



„Das Alles“ ist sein großes Grundstück mit einem Schotterplatz gleich am Alaska Highway. Hier betreibt Cook mit seiner Frau Dorothy die Koidern River Lodge. Der Souvenirshop ist mit allerlei Mineralien, Versteinerungen, alten Nummernschildern und sonstigem nutzlosen, aber interessantem Krimskrams vollgestopft. Das Motel gleich nebenan, ist seit Jahren geschlossen. Ebenso das kleine Restaurant. Mit zunehmendem Alter wurde den Cooks die Arbeit zu viel. Ärger mit der Gewerbeaufsicht tat den Rest. Das hüfthohe Gras und die eingestaubte Zapfsäule zeugen von Cook’s langer, unfreiwilliger Abwesenheit.


Jim Cook bezeichnet sich selbst als „Pionier des Alcan“ – wie der Alaska Highway im Volksmund genannt wird. „Seit 44 Jahre lebe ich hier an der Straße“, berichtet der alte Mann. Damals, 1966, war der Highway, der Dawson Creek im kanadischen British Columbia mit der Delta Junction in Alaska verbindet, seit gerade einmal 17 Jahre für den zivilen Verkehr offen. 1942 in nur acht Monaten Bauzeit von der US-Armee fertiggestellt, diente die 1422 Meilen lange Strecke der Anbindung des 49. US-Bundesstaates Alaska auf dem Landweg an die restlichen USA. Der Pazifik war spätestens nach dem Angriff der japanischen Luftwaffe auf Pearl Habor unsicher geworden. Nach dem Zweiten Weltkrieg übergaben die Vereinigten Staaten die Straße an Kanada. Von hier aus wurden die Provinzen British Columbia, Yukon und die North-Western Territories nach und nach erschlossen.


„Der Highway hat sich sehr verändert“, weiß Cook. Seit Jahren ist die gesamte Strecke asphaltiert. Neue Restaurants und Motels haben entlang der Strecke eröffnet, während viele aus der ersten Stunde ihre Geschäft schließen mussten. „Krankheit, Alter, weil die Kinder das Unternehmen nicht weiterführen wollten …“, erklärt Cook warum. Er kennt die Geschichte der meisten Besitzer entlang der 1422 Meilen. Das Leben der Reisenden sei hektischer geworden, beschwert er sich. Die Tanks der Autos und Motorräder seien heute größer als damals, so dass sie nur noch seltener anhalten müssten. Dennoch liebt Cook sein Leben hier oben im Norden Kanadas, eine Autostunde von der Grenze zu Alaska entfernt. Und mehr noch an einem Tag wie heute.


Längst sind die schwierigsten Kurven der einstigen Schotterpiste entschärft, der Suicide Hill (milepost 148), ein steiler Hügel an dem ein Schild die Trucker der US-Armee mit der Botschaft „Sei bereit, vor deinen Schöpfer zu treten“ zum Bremsen aufforderte, geschliffen. Dennoch ist der Alcan ein Mythos, nicht nur für US-Amerikaner. Als „das letzte Abenteuer mit dem Auto“ wird die Strecke gerne bezeichnet.


Wer sich hinter dem Steuer schwer tut, dem sei abgeraten. Auf Jim Cook’s Hof liegen zwei bis drei Tage hinter und noch mindestens ein Tag vor den Fahrern. Dawson Creek befindet sich dort wo die Prärie aufhört. Jim Cook lebt 600 Meilen jenseits der Rocky Mountains und von der Delta Junction sind am Horizont die größten Berge der USA, die Alaska Range mit ihren Gletschern und dem mit 6.198 Metern höchsten Berg Nordamerikas, dem Mount McKinley, auszumachen.


Mit einer erlaubten Geschwindigkeit von 55 bis 65 Meilen pro Stunde geht es gemütlich durch beeindruckende Landschaften, mit hohen Berge, riesigen Flüssen und weiten Wäldern und Seen. Selbst im Sommer, der Hauptreisezeit, ist der Verkehr mehr als überschaubar. Büffel, Elche und Karibus grasen am Rande der Straße. Adler kreisen über den Wäldern und Bären kreuzen die Fahrbahn. Der Alaska Highway ist weltweit eine der längsten, ausgebauten Straßen durch abgelegene Wildnis.


Und dennoch ist der Alcan keine Touristenstrecke. Der Highway ist eine Lebensader. Aussichtspunkte oder Parkplätze gibt es nur wenige. Zwischen den einzelnen Campingplätzen, Tankstellen oder Lodges – Restaurants mit Zimmern oder Hütten zum übernachten – liegen oft Stunden. Aus dem Radio kommt meist nur Rauschen. Handys tun nicht. Immer wieder kommen riesige Trucks durch. Menschen fahren oft tagelang mit einem Wohnmobil im Schlepptau zur Arbeit.


Einer davon stellt sich als Louis vor. Der 63-jährige Franzose lebt seit 40 Jahren in Fort Nelson an der Meile 300. „Ich bin Qualitätsschweißer und erhalte meine Aufträge von Minen überall in Nordkanada. Früher konnte ich viele Orte nur per Boot auf den Flüssen erreichen. Jetzt führen Seitenstraßen vom Alaska Highway zu den entlegensten Orten“, berichtet er. Auch in seiner Freizeit fährt Louis gerne. Heute badet er mit seiner Indiofrau, seiner Tochter und einer Enkelin in den Naturthermalquellen Liard River Hotsprings (Milepost 496). „Wir kommen jedes Wochenende für ein paar Stunden hierher. Am Schönsten ist es im Winter, wenn ringsherum alles verschneit ist“, erzählt Louis. Es sei ja nicht weit. „Nur knapp drei Stunden mit dem Auto“. Die Bedeutung des Wortes Entfernung relativiert sich am Alaska Highway.


Neben der Landschaft sind es vor allem die flüchtigen Augenblicke und Gespräche von dem die Reise auf dem Highway lebt. Menschen mit ihren Sorgen, Nöten, Erfahrungen und großen Illusionen: Eine Tankstellenbesitzerin, die jedem Reisenden eine Fotokopie einer handschriftlichen Liste in die Hand drückt, auf der die Entfernungen zu den wichtigsten Punkten entlang des Alcan aufgeführt sind. Ein Vater, der mit seinem gerade einmal in den Stimmbruch gekommen Sohn dort entlang reist, wo er einst mit der Mutter die erste große Fahrt unternahm. Ein Mann mit Cowboyhut im Pickup, der irgendwo ein Pferd stehen hat, mit dem er sich in den Wäldern zum Jagen verlieren will.


Das schwule Pärchen, das die neuaufgeflammte Liebe feiert, in dem sie von Kalifornien hinauf zur Last Frontier, der Letzten Grenze – wie Alaska genannt wird – reisen. Die junge Airforce-Offizierin, die von Florida nach Fairbanks in Alaska versetzt wurde und die Gelegenheit nutzt, „um einfach mal den Kontinent mit dem Auto zu durchqueren“. Die junge Frau aus Argentinien, die sich ihren Freund schnappte, die alte Ente belud, und sich vor zwei Jahren auf den Weg zum nördlichsten Punkt Amerikas machte. Oder der LKW-Fahrer, für den die Schönheit der Strecke längst Alltag ist und der stattdessen davon träumt, nach Deutschland zu fliegen, um zu sehen, von wo sein Ur-Ur-Großvater kam. Wer nach stundenlangem Fahren anhält, ist gesprächig und hat was zu erzählen.


Und das genießt Jim Cook auch nach all den Jahren immer noch: „Dank der Reisenden habe ich Nachrichten aus aller Welt.“ Bevor der Alte sich verabschiedet, empfiehlt er seinen Gästen noch ein Restaurant eine halbe Tagesreise weiter, „mit den besten Champignons und den größten Hamburgern weit und breit“. Dann winkt er dem Auto hinterher, das in einer Staubwolke gehüllt vom Schotterplatz auf das nicht enden wollende Asphaltband einbiegt. Obwohl von der langen Krankheit noch immer gezeichnet, macht sich der Alte daran das Gras zu mähen. Seine nächste Tour auf dem Alcan hat auch er schon geplant. In drei Monaten muss er zur Nachuntersuchung ins Hospital nach Vancouver. „Gute Reise Jim Cook!“

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Der ursprünglich 1422 Meilen lange Alaska Highway – oder Alcan – verbindet Dawson Creek im kanadischen British Columbia mit der Delta Junction in Alaska. Die Straße ist durchgehend zweispurig und vollständig asphaltiert. Nach dem Ausbau ist die Strecke nur noch 1390 Meilen lang und in vier bis fünf Tagen gut zu bewältigen.

Anreise:


Ein guter Ausgangspunkt für eine Alcan-Reise sind Seattle (USA) oder Vancouver (Kanada). Von hier sind es zwei bis drei Tagen nach Dawson Creek. Von Chicago sind es fünf und von Minneapolis drei Tage.


Karten und Reiseführer:


Die seit 1949 jährlich erscheinende Milepost ist besser als jede Straßenkarte. Das Heft vom Umfang eines Telefonbuches listet für alle Highways im Norden Kanadas und in Alaska Tankstellen, Übernachtungsmöglichkeiten, sowie Sehenswürdigkeiten und Wanderungen mit chronologischer Meilenangabe auf. Von Wildwechsel über schlechten Straßenzustand bis hin zu Bauarbeiten gibt es nichts, auf was die Milepost nicht hinweisen würde.

Wer nach einer Alternative für die Rückreise sucht, nimmt den Taylor Highway und den Top of the World Highway von Tok (Alaska) nach Dawson City am Yukon (Kanada). Dann geht es auf dem Klondike Highway nach Whitehorse. Nach 270 Meilen auf dem Alaska Highway geht es über den Cassiar Highway und den Yellowhead Highway nach Prince George im Südwesten Kanadas.

Unterwegs:

Bereits 15 Jahre bevor der Alaska Highway gebaut wurde, kam das erste Auto in die Gegend. Häuptlingssohn George Johnston hatte es über die Flüsse nach Teslin (Milepost 804) bringen lassen. Er schlug eine vier Meilen lange Straße in den Wald und chauffierte Jagdtouristen herum. Im Winter fuhr er auf den zugefrorenen Flüssen und Seen. Der Chevrolet Baujahr 1928 ist im örtlichen Museum zu bestaunen.



Die bei den Alcan-Reisenden so beliebten Thermalquellen, Liard River Hotsprings (Milepost 496), waren für Johnston freilich erst nach Fertigstellung des Highway erreichbar. Ein Besuch der zwei Naturpools mitten im Wald ist Pflicht. Der autolahmen Rücken dankt es.

Wer Hunger bekommt, hält am Toad River Lodge (Milepost 422). Neben deftigen Essen gibt es hier das einzige Softeis weit und breit. Den besten hausgemachten Kuchen serviert die Rancheria Lodge (Milepost 710).



Und wer Sehnsucht mach einen richtigen Pub mit Darts und Billard hat, hält an der Continental Divide (Milepost 721). Hier gibt es auch den ultimativen Autoaufkleber: „Ich habe den Alaska Highway gemacht. In beiden Richtungen! Verdammt!“

Was bisher geschah: