© 2010 Reiner Wandler

29S: Alle Räder stehen still

„Ich bin wütend, immer sollen die gleichen bezahlen“, begründet Patricia Vargas, warum sie sich am Generalstreik beteiligt. Die 30-jährige Madriderin gehört zu dem, was Spaniens Presse gerne die „verlorene Generation“ nennt. „In den letzten zwei Jahren habe ich nur vier Monate gearbeitet“, erzählt die studierte Bühnenbildnerin und Kunsthistorikerin.


Patricia ist eine von vier Millionen Arbeitslosen in Spanien. Das sind 20 Prozent der arbeitenden Bevölkerung. Bei den unter 30-Jährigen sind gar 41 Prozent ohne Job. 56 Prozent der jungen Menschen, die noch arbeiten, haben nur einen Zeitvertrag. Die Lockerung des Kündigungsschutzes, den die Regierung des Sozialisten José Luis Rodríguez Zapatero vor drei Wochen durchs Parlament brachte, soll die Unternehmer anregen, Arbeitsplätze zu schaffen. Für die Gewerkschaften UGT und CCOO war dies nach einer achtprozentigen Lohn- und Gehaltskürzung im Öffentlichen Dienst der endgültige Auslöser zum fünften Generalstreik der spanischen Demokratie zu rufen.

Partricia glaubt nicht, dass die Flexibilisierung des Kündigungsschutzes positive Auswirkungen haben wird: „Die Unternehmen werde dies nutzen, um die Arbeitsbedingungen weiter zu verschlechtern.“ Die junge Frau weiß wovon sie redet. Vor zwei Jahren verlor sie ihren ersten und bisher auch letzten festen Job in einem Designerstudio: „Von 15 wurden 12 entlassen. Wir verdiente 24.000 Euro brutto pro Jahr.“ Vor ein paar Wochen habe sie zufällig gesehen, dass das Studio wieder Leute sucht. „Jetzt zahlen sie noch die Hälfte“, beschwert sich Patricia, die ihre Wohnung nur deshalb halten kann, weil ihr Freund arbeitet.

Auch Beatriz Salmerón kam kurz vor Mitternacht zum Lokal der Arbeiterkommissionen (CCOO) im Zentrum Madrids, um bei den Streikposten dabei zu sein. Die 26-Jährige, die in einem Beratungsbüro für Genossenschaftsbetriebe aller Art arbeitet, sieht sich als Opfer der Kürzungen zur Sanierung des Staatshaushaltes. „Gemeinden, Regional- und Zentralregierung geben immer weniger aus. Das bekommen unsere Kunden zu spüren“, weiß sie zu berichten. In ihrem Büro sind mittlerweile alle in Kurzarbeit. Statt spärlichen 850 Euro netto monatlich verdient Beatriz jetzt nur noch 650 Euro. „Klar wohne ich noch bei meinen Eltern“, sagt sie und zieht mit ihren KollegInnen los.

Überall sind die Trillerpfeifen der Streikposten zu hören. Wo sie vorbeikommen gehen die Läden der letzten noch offenen Kneipen herunter. „Geschlossen wegen Streik“ kleben die jubelnden Gewerkschafter auf die Scheibe. Immer wieder kommt es zu Scharmützeln mit der Polizei. Beamten in Zivil mit Gewerkschaftsaufklebern mischen sich unter die Streikposten. Blitzschnell ziehen sie ihre metallenen Totschläger und versuchen Gewerkschafter zu verhaften.
Die Stimmung heizt sich auf. Vor allem bei den Betriebshöfen der Linienbusse und vor dem Großmarkt spitzt sich die Lage zu. Ein riesiges Polizeiaufgebot versucht die Streikposten, die hier in die Hunderte gehen, aufzulösen. Mehrere Menschen werden schwer verletzt, andere festgenommen.

Die Gewerkschaften sprechen von einem Erfolg. Landesweit sollen sich rund 70 Prozent der Arbeiter beteiligt haben. Das staatliche Fernsehen TVE sendet Filme aus den 50ern. Die Region Madrid und das südspanische Andalusien erwachen ohne Regionalfernsehen. Bei mehreren kleineren Privatsender bleibt der Bildschirm ebenfalls schwarz. Zeitungen erscheinen nur mit Notausgaben. Ausgeliefert wird vielerorts nicht einmal diese.
Die Industrie wird im ganzen Land komplett bestreikt. Bei vielen großen Kaufhäusern bleiben die Läden unten. Geschäfte und Kneipen sind geschlossen. Es gibt kaum Flüge in Barcelona und Madrid. Mehrere Großmärkte haben die Auslieferung eingestellt. In Madrid fahren so gut wie keine Busse, der Müll wird nicht abgeholt. Der Stromverbrauch ist so niedrig, als wäre das halbe Land in Urlaub.

Patricia ist zufrieden und hofft, dass die Regierung die Reform noch einmal überarbeitet. „Falls Zapatero seine Politik überdenkt, denke ich nochmals über meine Stimme nach“, erklärt Patricia. „Wenn nicht, werde ich die Sozialisten nicht mehr wählen.“ Die junge Gewerkschafterin will jetzt ein bisschen ausruhen, bevor es am Abend auf die Großdemonstration geht.

Was bisher geschah: