© 2010 Reiner Wandler

Costa Insolvencia

Ein Lehrerehepaar, das mit einer kleinen Erbschaft von 25.000 Euro gleich fünf Wohnungen anzahlt, Studienabgänger, die trotz schlecht bezahlter, befristeter Arbeitsverträge eine Eigentumswohnung erstehen und 100 Prozent des Kaufpreises als Kredit bewilligt bekommen, normale Arbeiterfamilien, die im Neubaugebiet in eine Drittwohnung investieren, nachdem sie kurz zuvor bereits an der Küste eine Ferienwohnung auf Pump gekauft haben … Das ist, oder besser gesagt, das war Spanien. In den vergangenen Jahren hatten alle nur einen Traum: Reich werden ohne Arbeit. Die ständig steigenden Wohnungspreise versprachen hohe Renditen für alle. Doch eine Spekulationsblase macht eben nur die Ersten wohlhabend. Für die Anderen ist, sobald sie platzt, der Traum vorbei. Hunderttausende von Spanier sitzen auf ihren Schulden. So mancher zahlt eine Wohnung ab, die nach Einsetzen des Preisverfalls weniger wert ist als die aufgenommene Hypothek. Wer überhaupt noch einen Käufer findet, verliert viel Geld.

Vorbei sind die Zeiten, als jedes zweite Gespräch am Tresen begann: „Stell Dir vor, meine Wohnung ist jetzt doppelt soviel wert, als beim Kauf.“ Die Monopolypartie, bei der alle mitspielen wollten, ist um. Längst haben die Baukräne als Wahrzeichen Spaniens ausgedient. Der Baubranche ist zusammengebrochen, und reißt Dienstleistungen, Einzelhandel und Gaststättengewerbe mit sich. Geschäfte in bester Lage schließen. Die Terrassen vor den Kneipen bleiben leer. Da helfen selbst Happy-Hour und billige „Krisenmenus“ nicht. Das Gaststättengewerbe und die für Spanien so wichtige Tourismusbranche verzeichnen einen Umsatzrückgang von 20 bis 30 Prozent.

Jeder Fünfte in Spanien ist arbeitslos. Am meisten trifft es die Immigranten. In den Jahren des Booms strömten sie ins Land und besetzten Arbeitsplätze, die die Spanier zugunsten besser bezahlter Jobs aufgaben. Über Nacht arbeiten in den Kneipen und im Einzelhandel fast nur noch Einwanderer. Jetzt müssen sie gehen. Viele Unternehmer stellen wieder Spanier ein. Die zweite Problemgruppe sind junge Menschen ohne Abschluss. So mancher tauschte die harte Schulbank gegen den lukrativen Job auf dem Bau. Jetzt ist kaum noch Bedarf an ungelernten Arbeitskräften. Im Rahmen des Sparkurses Spaniens werden auch die Bildungsausgaben zusammengekürzt. Hunderttausende junge Erwachsenen befinden sich in einer Sachgasse. Die spanischen Familien rücken einmal mehr zusammen und füttern ihre Problemfälle durch.

Felipe González, der in seiner Amtszeit 1982 bis 1996 Spanien in die EU führte und trotz der Korruptionsskandel in seinem Umfeld bis heute vielen als der intellegenteste Regierungschef der jungen, spanischen Demokratie gilt, analysiert: „Als 2007 die Krise ausbrach, war Spanien einer der besten Schüler des Stabilitätspaktes. Wir hatten ein Haushaltsplus von 2,5 Prozent des BIP. Die Staatsverschuldung lag bei gerade einmal 37 Prozent. Spanien verzeichete ein Wachstum von 3,7 Prozent. In zehn Jahren haben wir 4,5 Millionen Immigranten in den Arbeitsmarkt integriert.“ Doch diese Entwicklung hatte auch ihre Schattenseiten, die ständige wachsende Verschuldung der Familien und Unternehmen. „Die Banken vergaben riesige Mengen billiger Kredite. Wir importierten mehr, als wir exportierten, da wir Wettbewerbsfähigkeit verloren hatten. Was wir konsumierten war wesentlich mehr als das, was wir selbst im Inland generierten und schlimmer noch, wir konsumierten, in dem wir Ersparnisse von außen ausgaben. Wir schulden, das was wir gewachsen sind, was wir freudig konsumiert haben, unsere Exzesse. Und jetzt müssen wir dafür zahlen.“

Ein Blick auf die Zahlen bestätigt dies. Zwar verzeichnet Spanien mit derzeit 55 Prozent des BIP eine wesentliche geringere Staatsverschuldung als die meisten Euroländer – Deutschland inbegriffen – doch die Privat- und Unternehmensverschuldung ist so hoch wie nirgends. Nach dem Jahrzehnt des Baubooms mit ständig steigenden Wohnungspreisen stehen Spaniens Familien mit 90 Prozent in der Kreide. Rechnet man die 145 Prozent der Unternehmensschulden und die 110 Prozent der Banken, sowie die Schulden der Regionen und Gemeinden hinzu, steht das Land mit über 350 Prozent des BIP in den roten Zahlen.

In einem ersten Moment der Krise versuchte die Regierung des Sozialisten José Lusi Rodríguez Zapatero die bauwirtschaft mit Stimuluspaketen künstlich zu Beatmen. Dies, die höheren Sozialausgaben und sinkende Steuereinnahmen ließen das Haushaltsdefizit auf 11,2 Prozent des BIP steigen. Jetzt kommt die rechnung in Form eines strickten Sparpaket, mit dem das Defizit bis 2013 wieder auf drei Prozent gedrückt werden soll. Bildungsausgaben, Forschungsgelder und öffentliche Investitionen werden gekürzt. Renten werden eingefroren, Beamtengehälter gesenkt und Babyprämien gestrichen.

„Wir standen unter dem Einfluss der Droge des Konsums und jetzt, wo wir nicht mehr konsumieren können, sind wir auf Entzug“ analysiert Manuel Castells Für den Soziologieprofessor an einer Privatuniversität in Barcelona und an der kalifornischen Universität von Berkeley. Ist die Krise eine „große Chance“ für einen verantwortungsvolleren Umgang mit den Ressourcen. Doch weiß er auch von der Gefahr, einmal mehr „hart zu arbeiten, mit der Vorstellung, so zum alten Modell zurückzukehren“ und damit zu „einem idiotisches Leben, in dem alle wie verrückt rennen, ohne inne zu halten, um Dinge zu konsumieren, die nur teilweise von Interesse sind, um mit der Angst zu leben, ob Wohnungskredit und Auto abbezahlt werden können, um dann weiter im Stau zu stehen, alles zu kontaminieren, ohne sich Zeit zu nehmen, um zu leben, ja nicht einmal um zu lieben, oder geliebt zu werden.“

Keine der aktuellen Politiker findet so klare Worte wie González oder Castells. Stattdessen ist es genau der Weg zurück zu altem Wohlstand, den Spaniens Politiker versprechen. Selbstkritik war und ist nicht die Stärke der spanischen Kultur.

Anstatt klarer Worte bedient sich die Politik der „Taschenspielertricks“, wie es der Rafael Chirbes es nennt. Der Schriftsteller aus der Mittelmeerregion Valencia geht mit dem sozialdemokratischen Regierungschef José Luis Rodríguez Zapatero hart ins Gericht. Er habe die „wirtschaftlichen Wechselfälle“ jahrelang vor den Bürgern verhüllt, mit der „Fiktion, es gebe einen wesentlichen Unterschied zwischen Christdemokraten und Sozialdemokraten“, schreibt Chirbes in einem langen Artikel, der bezeichnenderweise nicht in Spanien sondern in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht wurde. „Die Liste der Konflikte, die man in Spanien ausgraben (…) kann ist groß: praktizierende Katholiken gegen Laizisten, Abtreibungsverteidiger gegen Abtreibungsgegner, Nationalisten gegen Regionalisten, Anhänger von Verhandlungen mit ETA gegen Sympathisanten des harten Durchgreifens, (…) Machos gegen Feministinnen und Homosexuelle und sogar, ja vor allem – und das 70 Jahre später – Erben der Opfer des Bürgerkrieges gegen Erben des Franco-Regimes“, schreibt Chirbes, der mit seinem auch ins Deutsche übersetzten Romans „Krematorium“ die wohl beste Beschreibung des Immobilienbooms und seines sozialen Auswirkungen geschaffen hat.

„Crispación“ nennen die Spanier die politischen und gesellschaftlichen Spannungen, die von Regierung aber auch von der Opposition seit Jahren gezielt geschürt werden, um das Wahlvolk vom Wechsel ins gegnerische Lager abzuhalten. Doch es funktioniert nicht mehr, wie die Umfragen zeigen. Dürften die Spanier bereits jetzt statt 2012 an die Urnen, würden die Sozialisten verlieren. Die konservative Volkspartei (PP) würde die absolute Mehrheit im Parlament erringen. 86 Prozent der Wähler haben – so eine Umfrage der Tageszeitung «El País» – wenig oder überhaupt kein Vertrauen mehr in Zapatero.

Doch dies ist nur ein Teil der Wahrheit. Auch die oppositionelle PP weckt wenig Vertrauen. 73 Prozent glauben, dass die Konservativen, die bisher der Regierung aus wahltaktischem Kalkül jegliche Zusammenarbeit bei der Krisenbekämpfung verweigerten, nicht besser regieren würden.

Drei Viertel der Spanier wünschen sich deshalb ein Ende der politischen Zerstrittenheit und sehen in einer Große Koalition die Lösung. Dass dies mit den derzeitigen Politikern nicht machbar ist, davon sind 77 Prozent überzeugt. Sie wünschen sich neue Kandidaten – bei beiden Parteien. Spaniens wirtschaftliche Krise hat sich zu einer politischen Krise ausgewachsen.

Wer glaubt, dass diese Situation der ideale Nährboden für Proteste wie in Griechenland sei, sieht sich getäuscht. Beim Streik im öffentlichen Dienst Anfang Mai legten weit weniger als bei früheren Gelegenheiten die Arbeit nieder. Die Gewerkschaften arbeiten jetzt auf einen Generalstreik am 29. September hin. Sie wissen, es wird nicht leicht, die Menschen zu mobilisieren. Denn nach zehn Jahren Immobilienboom ist nichts, wie es war. Viele Spanier fühlen sich eher als gestrauchelte Besitzer denn als drangsalierte Arbeiter. „Die Utopie dank des Konsums glücklich zu sein“ – wie es Castells nennt – hat die spanische Gesellschaft grundlegend verändert.

Was bisher geschah: