© 2010 Reiner Wandler

Under Fire

Pro oder Contra? Star oder einer, der über die Stränge schlägt? Spaniens Öffentlichkeit und Presse debattieren voller Leidenschaft – nicht etwa über einen Fußballer, sondern über einen Richter. Es vergeht kaum ein Tag, an dem Baltasar Garzón, Ermittler am obersten spanischen Strafgerichtshof, der Audiencia Nacional, nicht irgendeine Titelseite ziert oder das Thema langer Analysen und Meinungskolumnen ist. Der durch seine Ermittlungen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Chile und Argentinien bekannt gewordene Kadi ist jetzt einen Schritt weiter gegangen. Er nimmt Spaniens eigene, dunkle Geschichte unter die Lupe und leitete ein Verfahren gegen die Führer des Putsches unter General Francisco Franco aus Armee und der faschistischen Falange ein, der 1936 in einen Bürgerkrieg und 40 Jahre Diktatur mündete.

Spaniens Rechte reagiert empört und formiert sich, als sei sie noch immer einem heiligen Schwur auf Caudillo und Vaterland verpflichtet. Allen voran Manos Limpias – Saubere Hände. Die rechtsradikale Gewerkschaft strebte mit Erfolg eine Klage gegen den Ermittler an. Garzón habe das Recht gebeugt, heißt es in der Anzeige, die von Spaniens Oberstem Gerichtshof, dem Tribunal Supremo, zugelassen wurde. Schützenhilfe bekommt Manos Limpias von der rassistischen Gruppierung Libertad y Identidad und der Falange selbst. Die sensationalistische Tageszeitung El Mundo und die konservative ABC berichten über jeden noch so absurden Vorwurf gegen Garzón. Sollte das Tribunal Supremo den Richter verurteilen, drohen ihm 20 Jahre Suspendierung vom Dienst. Dies wäre das Aus für den 54 -Jährigen und ein herber Schlag für die Opfer von Verbrechen gegen die Menschlichkeit- und damit für die Verteidiger des Weltrechtsprinzips, der universellen Jurisdiktion, als deren Pionier Garzón gilt.

Garzón bekam im Dezember 2006 eine Anzeige von Angehörigen von Verschwunden aus dem Spanischen Bürgerkrieg (1936-1939) auf den Tisch. Die standrechtliche Erschießungen, Entführungen und Ermordungen von Anhängern der von den Faschisten gestürzten, demokratischen, republikanischen Ordnung stelle ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ dar, vertreten die Opfer-Anwälte. Garzón akzeptierte dies und fordert von verschiedenen staatlichen Archiven, der Kirche und der Armee die Namen der Opfer der brutalen Repression an. Meist stieß er auf eine Mauer des Schweigens. Nur wenigen Regionen und einige Professoren, die das traurige Kapitel der spanischen Geschichte erforschen, unterstützten Garzón. Der Richter kam zum Schluss, das vom Kriegsausbruch bis zum Jahr 1951 mindestens 112.000 Opfer zu beklagen sind. Da er nicht einmal aus einem Drittel Spaniens brauchbare Informationen erhalten hatte, dürfte die Dunkelziffer um ein vielfaches höher sein. Die meisten Opfer wurden in Massengräber verscharrt. Spaniens Geschichte liegt überall im Lande am Straßenrand begraben.

Mit der Studie in der Hand eröffnet Garzón im Oktober 2008 ein Verfahren: Zum einen ermittelt er gegen Diktator Franco, seine Generäle und die faschistischen Führer wegen des Staatsstreiches von 1936. Zum anderen ordnet er die Suche der Opfer „von gewaltsamen Verschwinden“ an. Während der gesamten Nachforschungen meldeten sich hunderte von Familien bei Garzón. „Wir wollen wissen …“, fingen die verzweifelten Briefe meist an.

Doch die Hoffnung der Familien, nach so langen Jahren endlich einen Richter gefunden zu haben, der sich ihrer annimmt, sollte nicht lange währen. Die Staatsanwaltschaft stoppte die Suche nach den Massengräbern nur zehn Tage später. Garzón erklärt sich für nicht zuständig und überwies die Ermittlungen an die jeweiligen regionalen Amtsgerichte. Ein geschickter Schachzug: Obwohl die meisten Amtsgerichte bis heute nicht auf die Überstellung des Falles reagiert haben, überwiesen Richter aus Granada und Madrid den Fall zurück. Es handle sich eindeutig um Verbrechen gegen die Menschlichkeit, und diese seien Zuständigkeit der Audiencia Nacional und damit eben von Garzón.

„Unser Mandant soll mit diesem Verfahren das Recht gebeugt haben“ beschwert sich Rechtsanwalt Martínez-Fresnedas. Der Strafrechtsspezialist aus Madrid verteidigt Garzóns gegen die Anschuldigungen von Manos Limpias, Libertad y Identidad und der Falange. Garzón habe das Verfahren aufgenommen, obwohl er wußte, dass die Vergehen unter die Amnestie von 1977 fallen, heißt es in der Klage der drei Gruppierungen. „Ein Amnestiegesetz, das Verbrechen gegen die Menschlichkeit auszuradieren versucht, obwohl diese nicht als politische Verbrechen angesehen werden können, ist nichtig“, hält Garzón dagegen.

„Genau darum geht es eigentlich“, sagt Martínez-Fresneda. „Erstmals steht den Opfern der Francodiktatur ein Gericht offen, und das soll um jeden Preis verhindert werden.“ Der Straftatbestand der Rechtsbeugung liege nur vor, wenn ein Richter das Gesetz „völlig willkürlich und absurd“ auslege. Die Gültigkeit der spanischen Amnestie zu bezweifeln, falle nicht darunter. Sowohl der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag als auch der Europäische Gerichtshof in Straßburg halten solche Amnestien für ungültig.

„Schieß auf den Garzón“ nennt Martínez-Fresnedas, was jetzt in Spanien geschieht. Jeder noch so absurde Vorwurf gegen den Richter werde von der Presse aufgegriffen, um Garzón zu schaden. So soll er Einkünfte aus Universitätsvorträgen nicht angemeldet haben, Gefälligkeitsurteile für Sponsoren von Tagungen gefällt haben … „Trittbrettfahrer und Abenteurer jeder Art“ sieht der Strafverteidiger dahinter. „Der Fall Garzón reiht sich in besorgniserregende internationale Entwicklungen ein“, ist sich Martínez -Fresneda sicher. Er hat dabei die Entwicklung in Italien im Sinn, wo Regierungschef Berlusconi die Justiz zur Untätigkeit verdammen will, oder den Versuch in den USA, Ermittlungen zur Behandlung von Gefangenen in Guantanamo und anderen geheimen Haftzentren zu verhindern.

Garzón hat viele Feinde. Nur wenige Richter sind so bekannt wie er. Der Ermittler machte 1998 weltweit von sich Reden, als er den ehemaligen chilenischen Diktator Augusto Pinochet per internationalem Haftbefehl in London festsetzen ließ. Garzón ermittelte wegen Folter, Mord und Verschwindenlassen von spanischen Staatsbürgern zu Zeiten des chilenischen Militärputsches 1973. Garzón wandte erstmals erfolgreich die Interpretation an, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit überall untersucht werden können, und leitete damit das Ende der Straffreiheit für schwere Menschenrechtsverletzungen ein.

In Spanien selbst war Garzón schon lange bekannt. Keiner geht so entschieden gegen die Drogenmafia, die bewaffneten Separatisten von ETA oder gegen die Korruption vor, wie er. Und es war Garzón, der das wohl dunkelste Kapitel der jungen Geschichte der spanischen Demokratie, den schmutzige Krieg der Todesschwadrone GAL, gerichtlich aufarbeitete. Er konnte beweisen, dass die GAL, denen in den 1980er Jahren 23 Menschen aus ETA und Umfeld zum Opfer fielen, von der Regierung selbst gesteuert wurde. Ein ehemaliger Innenminister und sein Sicherheitssekretär mussten hinter Gitter. Felipe González, der sozialistische Regierungschef, unter dem sie gedient hatten, entkam nur knapp den Ermittlungen. Garzón trug an der Spitze der GAL-Hierarchie ein X ein. Ganz Spanien weiß, wen er damit meinte.

Bereits damals geriet Garzón ins Kreuzfeuer der Kritik – allerdings unter vertauschten Vorzeichen. Viele die ihn heute angreifen, verteidigten seine Ermittlungen gegen die sozialistische Regierung. Und so mancher, der ihn heute in Schutz nimmt, hätten dem Richter, der anders als viele seiner Kollegen weder dem fortschrittlichen noch dem konservativen Richterverband angehört, am Liebsten den Fall entzogen.

„Die ganzen Vorwürfe gegen Garzón sind nur Nebelkerzen“, ist sich Joan Garcés sicher. Der Anwalt aus Madrid vertrat die Opfer, die gegen den ehemaligen chilenischen Diktator Augusto Pinochet klagten. Für ihn ist Garzóns Arbeit ein Meilenstein für die „universelle Jurisdiktion“. Denn ohne den Richter aus Madrid hätte es den Fall Pinochet und die Verfahren gegen die Verantwortlichen der argentinischen Militärdiktatur in Santiago und Buenos Aires wohl so kaum gegeben.

„Es kommt immer wieder vor, dass kollektive Fragen, die Millionen von Menschen, oder gar ganze Nationen betreffen, sich an einzelnen Personen festmachen“, gibt Garcés zu bedenken. Das gelte auch in diesem Fall. Während ein Teil der Spanier sich auf die Suche ihrer Geschichte machten, unternehme die Gegenseite alles, um genau dies zu verhindern. Auch in Argentinien sei der erste Richter, der sich der juristischen Aufarbeitung der Diktatur annahm, vom Dienst suspendiert worden, gibt Garcés zu bedenken. „Ob sie gegen Garzón damit durchkommen, hängt von der Stärke der spanischen, demokratischen Öffentlichkeit ab“, mahnt Garcés.

Und diese formiert sich. Opferverbände schlagen Garzón für den Sakharov Preis des EU-Parlamentes vor. Intellektuelle, Regisseure, Schauspieler oder Schriftsteller wie José Saramago unterzeichnen Solidaritäsadressen. Menschenrechtsorganisationen stellen sich hinter Garzón. Anwälte, Richter und Staatsanwälte schreiben Artikel zu seiner Verteidigung. „Eine Ungerechtigkeit am Einzelnen ist eine Gefahr für die gesamte Gesellschaft“, heißt es in einem Kommuniqué der Mitarbeiter Garzóns an der Audiencia Nacional. /Foto: www.presidencia.gov.ar

Was bisher geschah: